Zufälle müssen umso glücklicher sein je widriger die Umstände ausfallen.
Das zeigt „Aller Tage Abend“ im Wiener Schauspielhaus anhand der
mehrere Reiche und Regime verknüpfenden Geschichte einer zu Beginn des
Jahrhunderts geborenen jüdisch stämmigen, kommunistischen
Schriftstellerin.
| Steffen Höld, Franziska Hackl, Florian von Manteuffel, Katja Jung, Katharina Klar, Johanna Tomek. BILD: Alexi Pelekanos / Schauspielhaus |
Als am Beginn des 20. Jahrhunderts in Brody
geborene, jüdische Frau hatte man vielleicht bessere Chancen das Opfer
der boshaften, blinden Willkür des Zufalls, als erfolgreiche
DDR-Staatsautorin zu werden. Man hätte 1902 in Galizien bereits im Alter
von acht Monaten sterben können; sich später dann - 1919 - in Wien aus
Liebeskummer in den Freitod flüchten können; hätte 1939 in Moskau der
stalinistischen Inquisition zum Opfer fallen können; 1960 hätte man als
hochdekorierte Schriftstellerin auf der Treppe des Hauses in Ostberlin
ausrutschen und tödlich verunglücken können, anstatt 1990 im Altenheim
im wiedervereinigten Berlin zu sterben. Jenny Erpenbecks Roman „Aller
Tage Abend“ (Albrecht Knaus Verlag, München 2012) spürt all diesen Toden
und ihrem Widerhall im Leben der Hinterbliebenen nach, um im
darauffolgenden Buch das Was-wäre-Wenn eines glücklicheren Zufalls und
damit des Überlebens der Protagonistin auszuloten.
Anhand dieser namenlosen Akteurin H. – erst im Altenheim heißt sie
Frau Hoffmann - erzählt Erpenbeck eine subjektive Geschichte des 20.
Jahrhunderts. In dem in fünf Büchern unterteilten Text schält sie die
Erkenntnis heraus, wie grausam der Zufall in unsere Existenzen
eingreifen kann, vor allem, wenn deren Umstände selbst nicht anders zu
beschreiben sind als grausam. Dass es der Protagonistin H., einer in
Polen geborenen Jüdin, tatsächlich wie purer Zufall erscheinen muss,
dass gerade sie dieses mörderische Jahrhundert überlebt haben soll, so
viele andere aber nicht, ist nur verständlich.
Das Leben dem Zufall entreissen
Dem Text ein „kindische Alles-ist-Zufall-Weltsicht“
zu unterstellen ist so falsch, wie darin „das typische Ossi-Bewußtsein“
erkennen zu wollen, chauvinistisch. Denn wer alles durch den Zufall
bestimmt sieht, hat keinen Grund sich politisch zu engagieren und das
heißt ja nichts anderes als zu versuchen, die Verhältnisse, unter denen
wir unser Glück machen, zu Gunsten eben dieses Glücks zu verändern.
Genau dieses Engagement ist aber ein wiederkehrendes Motiv des Textes.
Ein Unterfangen, das die Figur der H. mit ihrer vagen Vorlage Hedda
Zinner, Schriftstellerin, Journalistin, Schauspielerin und Großmutter
von Jenny Erpenbeck teilt.
Wenn also in Erpenbecks Text von Zufall die Rede ist, dann ist es
kein Eingeständnis der Unverständlichkeit und Unveränderlichkeit des
Daseins. Im Gegenteil: Es ist ein Apell das Leben und das Überleben dem
Zufall zu entreißen und daran (politisch) zu arbeiten. Auch wenn der
Text oft von Zufall spricht, meint er damit Kontingenz: es können zwar
alle Ereignisse eintreten, aber mit unterschiedlichen
Wahrscheinlichkeiten. Gerade an den Wahrscheinlichkeiten einzelner
Szenarien und damit an den Bedingungen ihres Eintretens gilt es zu
arbeiten.
Roman > Theater
Nun ist es aber so, dass der Gegenstand dieser Rezension ein
Theaterstück und kein Roman ist, der Text weniger selbst spricht, als
gesprochen wird. Das sogar sehr viel und über kürzere Strecken auch
dialogisch. Der Dramatisierung von Andreas Jungwirth und Regisseurin
Felicitas Brucker gelingt es dabei, durch präzisen und teils wortlosen
Spielsequenzen der schmucklosen Sprache von Erpbeck eine sehr
körperliche Komponente hinzufügen, ohne diese in ihrem Ausdruck zu
schmälern. So bleiben auch die Figuren in Bruckers Regiearbeit konzis
und schaffen interagierend Stimmungen, die der Textfassung spielerisch
etwas entgegensetzen, ohne sie verfärben zu wollen.
Der selbstbewusste,
aber unaufdringliche, Einsatz von Sound und Video auf Michael Zerz von
einem modularen Kubus geprägten Bühne, trägt diesem Unterfangen
Rechnung, betont aber vor allem in den Übergängen zwischen den Büchern
bzw. Spielsequenzen auch Zäsuren. Diese sind aufmerksamkeitsökonomisch
in Anbetracht der teils langen Monologe und Erzählpassagen willkommen,
rütteln einladend wach.
Lediglich das fünfte und letzte Buch fällt in Punkto Dichte ab.
Dennoch sehenswert: Johanna Tomek als nun alte Frau Hoffmann im
Altenheim im Sprachstrom des Erinnerns, in dessen Kehrwasser bereits das
Vergessen einsetzt. In der durch die Bank sehenswerten Ensembleleistung
stechen Steffen Höld, Franziska Hackl und Katja Jung besonders hervor.
Höld wechselt gekonnt zwischen den Charakteren der verschiedenen Rollen:
als exilierter Vater des verstorbenen Kindes tritt er dabei den
amerikanischen Einwanderungsbehörden entgegen – mit einer Haltung aus
fast freudiger Neugierde und dem Wissen den emotionalen Abgrund jenseits
des Atlantiks noch immer in sich zu tragen. Franziska Hackl weiß in
ihren Rollen mit einer unfassbaren Beweglichkeit im Angesicht der
Brutalität des menschlichen Daseins zu begeistern. Katja Jung begleitete
das Publikum in ihrem Monolog fokussiert in die wabernde Paranoia der
stalinistischen Schauprozesse. Chapeau.
Das Stück vermittelt eine lebendige Geschichtsstunde des 20.
Jahrhunderts, zeichnet die Lebens-, Gefühls- und Denkwege einer
jüdischen Frau, die versucht als streitbare Kommunistin durch dieses
Jahrhundert zu gehen. Vor allem aber stellt es das Anliegen der
Protagonistin und dessen Bedeutung in das Zentrum: dass "Worte aus Tinte
sich in etwas Wirkliches verwandeln, so wirklich wie ein Tüte Mehl."
Aller Tage Abend (UA)
Von Jenny Erpenbeck, Bühnenfassung: Andreas Jungwirth
Regie: Felicitas Brucker, Bühne: Michael Zerz, Kostüme: Marie-Luise
Lichtenthal, Sounddesign: Arvild Baud, Video: Samuel Schaab,
Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Franziska Hackl, Steffen Höld, Katja Jung, Katharina Klar, Florian von Manteuffel, Johanna Tomek.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
Erschienen auf TheGap.at.