Montag, 7. April 2014

Was Theater von Serien lernen kann

Nein, eine Bühnenfassung von "Lost" wird es vorerst nicht geben. Was das Theater von Serien lernen könnte, ob das überhaupt geht – und wenn ja, was genau, und was das mit ihrem aktuellen Stück „Previously On“ in der Garage X zu tun haben könnte, erklärt uns die Dramatikern Gerhild Steinbuch.

Bild: previouslyon-4_Kopie.jpg
"Previously On" BILD: Yasmina Haddad

Gerhild Steinbuch ist Dramatikerin, 1983 in Mödling geboren und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, ihre Stücke quer im deutschen Sprachraum gespielt, aber auch ins Englische übersetzt. Gerade ist sie wieder in Wien um ihre neue Arbeit „Previously On“ vorzubereiten, bei der sie neben Philine Rinnert und Sebastian Straub auch selbst als Performerin mitwirken wird.
Mitten im Endprobenstress haben wir sie getroffen, um mir ihr über Dinge zu reden für die sie im Moment (Endprobenstress!) sicher keine Zeit hat: Serien. Grund dafür ist nicht etwa ausgeprägter Sadismus unsererseits, den es natürlich auch gibt, sondern der Titel ihres neuen Stücks: „Previously On“. Wie der Titel nahe legt, könnte das nämlich auch was mit Serien zu tun haben. Was genau das sein könnte, verrät sie uns im Laufe des Gesprächs.

Wenn man deine Biographie betrachtet, fällt auf, dass sich da recht viele Stipendien, quasi in Serie, aneinanderreihen. Ist diese Episodenhaftigkeit etwas, dass das künstlerische Arbeiten überhaupt auszeichnet?
Man arbeitet ja immer episodenhaft, da man immer von Projekt zu Projekt arbeitet. Grundlegende Themen ziehen sich durch mehrere Projekte, Figuren lassen einen dann auch nicht so schnell los und tauchen in unterschiedlichen Konfigurationen in unterschiedlichen Produktionen wieder auf..

Was sind deine zentralen Themen?
Mich interessieren Übergriffigkeiten. Also im verbalen Sinn. Wo Sprache übergriffig wird und was aus einem heraus, was aus der Sprache spricht. Welche Strukturen stecken da drin, welche Macht. Daher suche ich mir unterschiedliche Szenarien, in denen ich dazu arbeiten kann.

Zeit zum Serienschauen hast du dann aber selber wohl weniger?
Also ich schau schon sehr gern Serien. In letzter Zeit jetzt nicht so viel, aber im Moment bin ich bei "Homeland" gerade ganz gut drinnen. Das mag ich auch ganz gern, weil das auch nicht so zuverlässig ist. Man glaubt immer es gibt eine gesicherte Struktur, aber die gibt es dann gar nicht. 

Und was sind deine Alltime-Favourites?
Ich habe ein bisschen einen Superhelden-Fimmel. Das wird man dem Abend auch ein wenig anmerken. Ich mag die erste Batman-Serie. Sowohl im Original, als auch in der Synchronfassung. Sonst natürlich auch noch "Buffy" oder "Twin Peaks". 

Twin Peaks finden ja irgendwie alle gut. Das muss man ja schon fast nicht mehr sagen. Bei Buffy gibt‘s da mehr Angriffsflächen ...
… was ich aber gar nicht verstehen kann. Zumindest dann, wenn man es im englischen Original schaut. Die haben es geschafft eine Serie für ein wahnsinnig großes Publikum, das einfach unterhalten werden will, zu machen und gleichzeitig eine zweite Ebene für ein Nischenpublikum einzuziehen. Die gehen auch toll mit dem Format um. Welche Frauenfiguren die haben und wie sich Teenager-Probleme in die Dämonenwelt hineinspiegeln, find ich großartig. Dann gibt es auch noch diese tolle Musicalfolge ...  Es gibt ja auch einen großartigen Essay von Dietmar Dath über Buffy.
 
Gibt es dann etwas, das du von diesen Serien fürs Theater mitnimmst?
Ich finde eher die Serien interessant, die sich nicht vor allem darum drehen einer Figur über eine bestimmte Strecke zu folgen, sondern bei denen die klassische Erzählstruktur die Folie für etwas anderes bildet. Ich mag etwa "Mad Men" sehr gern, weil es immer behauptet in einer längst vergangenen Zeit zu spielen aber viele der politischen Aspekte in der Handlung sind Referenzen auf das tagespolitische Geschehen der Gegenwart. Das finde ich interessant: dass dir etwas erzählt wird, aber damit gleichzeitig auch noch etwas ganz anderes. Konventionelle Geschichten als Folie zu verstehen. Das ist vielleicht auch etwas, was wir in das aktuelle Projekt mitgenommen haben.

Ist diese Vielschichtigkeit von Texten, wie etwa klassischerweise bei Shakespeare, wo der Text für unterschiedliche Zielgruppen funktioniert, etwas wo aktuelle Serien Theater überlegen sind?
Serien haben halt konsequent ihre Dramaturgie weitergedacht. Manchmal hab ich im Theater das Gefühl, dass man versucht einzelne Formate eins-zu-eins zu übernehmen, anstatt sich mit den Qualitäten des eigenen Mediums zu beschäftigen. Ich glaube, man muss versuchen am Medium konsequent weiterzudenken, anstatt blind das eine aufs andere zu übertragen. 

Kann man sich von Serien etwas in Punkto Erzählen abschauen oder muss man im Theater aufgrund des viel knapperen, zeitlichen Rahmens sowieso anders erzählen?
Man muss vielleicht anders erzählen, aber ein knapperer zeitlicher Rahmen heißt nicht, möglichst geschlossen oder einfach erzählen zu müssen. Man kann auch einfach mit dem Prozess des Erzählens offen umzugehen, ihn untersuchen und befragen. 

Darum wird es auch in der aktuellen Arbeit gehen?
Ja, wir versuchen bewusst offen zu legen, dass sich zu dritt diese Geschlossenheit des Erzählens nicht herstellen lässt. Die lässt sich im Theater ja sowieso nicht bewerkstelligen, weil immer Leute aufeinandertreffen, die jeweils eigene Perspektiven auf den Stoff haben. Es gibt bei unserem Abend bewusst keine Regie, die den Prozess von außen bündelt, die dann sagt „so und so und so“, also keine Vision, die dann den schönen Rahmen schafft. 

Das habt ihr in dieser Konstellation ja schon einmal erprobt…
Wir haben bereits einmal beim Steirischen Herbst eine ähnliche Arbeit gemacht, wo wir mit einem Wiederholungsprinzip gearbeitet haben. Der Abend lief im Loop, die Anlage war eher installativ. Und wir haben uns in der damaligen Arbeit mit der Konstruktion einer Geschichte- einer Heldenreise beschäftigt, die dann aufgebrochen und dekonstruiert wird. Im aktuellen Stück wollten wir das fortführen: Den installativen Charakter, die gemeinsame Konstruktion einer Geschichte, das Ansammeln von Erzählansätzen, die man versucht in eine Form zu kriegen. 

Auf dieses Serienprinzip verweist auch der Titel „Previously On“?
Der Titel verweist darauf, dass wir die Arbeit als Fortführung unserer ersten gemeinsamen Arbeit verstehen. Außerdem bezieht er sich darauf, dass jeder Abend eine neue Geschichte, neue Geschichten über einen Herrn P. erzählt, der uns als Sammelbecken und Rahmen dient; Geschichten, die in einer späteren Vorstellung wieder aufgegriffen, variiert oder weitererzählt werden können. 

Wie kann ich mir den Abend konkret vorstellen?
Wir – Sebastian – Performance, Philine – Raum – und ich – Text - sitzen gemeinsam an einem Tisch auf der Bühne, quasi unsere Gemeinschaftsinsel und spielen ein Spiel um die Erzählhoheit der jeweils nächsten Szene. Von dort aus entstehen dann Erinnerungen oder Konstruktionen der Geschichte des Herrn P., die wir aus unseren drei Perspektiven erzählen. Jeder von uns greift in den Abend ein und erzählt die Geschichte weiter, aber immer aus seinem Element heraus. Die Ebene an der alles hängt sind wir. Die Konstellation von drei Menschen, die gemeinsam eine Geschichte erzählen wollen, um sie wettstreiten oder dann doch versuchen eine gemeinsame, nicht lineare aber auch nicht beliebige Geschichte zu finden. Diese Zusammenarbeit aus drei unterschiedlichen Perspektiven ohne ordnende Instanz, in der sich Narrative verbinden oder eben nicht. 

Wie funktioniert Erzählen für dich im Idealfall?
Tatsächlich in einem solchen Gruppenprozess. Ich muss noch dazusagen, wir sind bei dem Projekt nicht alle auf derselben Linie, haben unterschiedliche Ansätze. Sebastian ist zum Beispiel ein großer Fan klassisch konstruierter Geschichten. Ich weiß, wenn ich nur für mich bin und ich jede Erzählung anzweifle, besteht die Gefahr, dass vielleicht überhaupt keine Erzählung mehr zustande kommt. Das Schöne an unserem Prozess ist eben dieses Abarbeiten an den unterschiedlichen Perspektiven auf das Erzählen, das gezielte Nutzen der unterschiedlichen Ansätze und Vorlieben. Ich finde gerade dieses Zusammenspiel eine gute Art zu erzählen. 

Woher kommt deine Lust am nichtlinearen Erzählen oder am Dekonstruieren linearer Erzählungen?
Bei mir ist es so, dass ich mein eigenes Leben nicht in einer so klassischen Narration erzählen könnte und mich da nicht wiederfinde. Ich denke, man muss andere Formen finden, in denen Parallelerzählungen möglich sind, mehrere Wirklichkeiten. Oder zwei Parallelfiguren oder sogar mehrere. So nehme ich zumindest meine eigene Lebensrealität wahr.

Previously On
Von und mit: Gerhild Steinbuch, Philine Rinnert, Sebastian Straub
Garage X, Termine: 9. bis 11. April jeweils 20.00 Uhr.

Erschienen auf TheGap.at.
 


Donnerstag, 3. April 2014

Schluss mit Sex?

In Österreich gilt eine der strengsten Regulierungen bezüglich Gentechnik und Reproduktionsmedizin. Lässt sie sich halten?
 
Schlechte Nachrichten für Fans von Reality-Shows à la „Teenager werden Mütter“: Sexualität und Fortpflanzung gehen getrennte Wege. Die Befruchtung findet nur mehr in der Retorte statt. „In zwanzig bis vierzig Jahren, zumindest in der entwickelten Welt, werden die meisten Babys mittels In-vitro-Fertilisation (IVF) gezeugt werden, damit ihre Eltern zwischen unterschiedlichen Embryonen wählen können“, erklärte zu Beginn des Jahres Hank Greely, Professor an der Stanford Law School. Eltern könnten so sicherstellen, dass ihr Nachwuchs eine gewünschte Genkombination mit auf den Lebensweg bekommt. Krankheiten, vor allem jene, die durch ein einziges Gen ausgelöst werden, können ausgeschlossen werden. 

Gen-Abgleich für Spender von Ei und Samen
Die Zukunft soll noch mehr bringen: Greely glaubt, dass die Entschlüsselung des Genoms so weit kommt, dass sich damit auch Wahrscheinlichkeitsaussagen über bestimmte Begabungen treffen lassen. Passend dazu hat der US-amerikanische Genanalysedienst „23andMe“ im Oktober 2013 in den USA ein Patent für eine auf Gendiagnostik basierende Auswahl von Samenspender oder Eizellenspenderinnen erhalten. 

Dass Samenbanken Aufschluss über die Charakteristika ihrer Spender geben, ist nicht neu. Das von „23andMe“ patentierte Service geht aber darüber hinaus: Die DNA von Männern und Frauen wird in Beziehung gesetzt, um Prognosen über potenzielle gesundheitliche Risiken, aber auch Charaktermerkmale zu erstellen. Das Unternehmen räumt freilich ein, dass die Prognose schwammig ist, da sich diese Anlagen erst in einem komplexen Zusammenspiel mit der Umwelt entwickeln. Viele ExpertInnen glauben, dass das auch so bleiben wird. 

Lauter Albert Einsteins und Stephen Hawkings?
Aber es gibt auch andere. BGI, das Beijing Genomics Institute, versucht mit seinem Cognitive Genomics Projekt der genetischen Basis menschlicher Intelligenz auf die Spur zu kommen. Stephen Hsu, Mitarbeiter des Projekts und Vizepräsident für Forschung an der Michigan State University, kann sich sogar vorstellen, dass es nicht nur beim Entschlüsseln dessen bleibt, was den Unterschied zwischen „Albert Einstein und Es-nicht-aufs-College-schaffen“ oder zwischen „Stephen Hawking und einem durchschnittlichen Menschen“ ausmacht. 

„Wäre es nicht erstaunlich, wenn man mit gewissen Optimierungen in utero die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns verbessern könnte?“, fragt Hsu im New Yorker über die Möglichkeit, menschliche Intelligenz durch geringe Manipulationen zu verbessern. Dass Hsu gerade den Physiker Stephen Hawking in seinem Beispiel verwendet, wirkt paradox. Hawking leidet an Amyotropher Lateralsklerose, einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems. Sie wird mit Mutationen in verschiedenen Genen in Zusammenhang gebracht. Ob ein Embryo mit diesen Mutationen in einem Szenario, wie es Hsu beschreibt, überhaupt transplantiert werden würde, ist fraglich. Wahrscheinlich hätte Hsu gar keinen Vergleich mit Hawking anstellen können, weil der nicht geboren worden wäre.

Zu arm, um sich optimalen Nachwuchs zu kaufen
Dass die menschliche Fortpflanzung zukünftig nur mehr mittels IVF und Präimplantationsdiagnostik (PID) praktiziert werden wird, hält Uta Wagenmann, Expertin für Gentechnik und Medizin des Gen-ethischen Netzwerks, einer Nichtregierungsorganisation, die sich seit fast dreißig Jahren kritisch mit Biopolitik und Gentechnik beschäftigt, für eine „alberne Fantasie“. 

„Das ist eine zutiefst bürgerliche Vorstellung, die vielleicht einen Teil der besser gestellten Mittelschicht betrifft“, sagt Uta Wagenmann. „Wenn so etwas an die Wand gemalt wird, ist das jenseits von dem, wie die Gesellschaft funktioniert. Die Menschen kaufen sich in der Regel keinen Nachwuchs. Abgesehen davon sind viel zu viele dafür einfach zu arm.“ So werden allein in den USA mehr als vierzig Prozent aller Babys von ledigen Frauen geboren – und diese gehören mehrheitlich zur Unterschicht. Auch die Zahl ungewollter Schwangerschaften legt nahe, dass Fortpflanzung häufig nicht planvoll verläuft. 

Trotzdem haben Szenarien, die den Einsatz von Genmanipulation vorsehen, Bedeutung. Die Abgrenzung von extremen Szenarien erlaubt es WissenschafterInnen, sich selbst als verantwortungsvoll und die eigenen Wünsche und Ideen als vernünftig zu präsentieren. Uta Wagenmann hält die Beschäftigung mit diesen Szenarien nicht für vorrangig, da sie nur von der gegenwärtigen Realität der Gendiagnostik ablenke. 

Kein Konsens darüber, was menschliches Leben ist
Letztlich regelt die jeweils gültige Gesetzgebung die Praxis der Gendiagnostik. Sie ist immer auch Ausdruck gängiger kultureller und religiöser Überzeugungen. „Alle Weltreligionen unterscheiden sich ganz grundsätzlich, wenn es um die Frage geht, wann schützenswertes, menschliches Leben beginnt. Dies hat enorme Auswirkungen auf die internationale Diskussion rund um PID oder embryonale Stammzellenforschung“, sagt Markus Hengstschläger, stellvertretender Vorsitzender der Bioethikkommission und Professor für medizinische Genetik an der MedUni Wien. „Die meisten Welt-religionen haben damit kein Problem. Andere, wie etwa auch die katholische Kirche, schon.“
In der Debatte um die Regulierung von Forschung und Anwendung verweisen ForscherInnen immer wieder auf China und den asiatischen Raum. Hier herrschen sehr liberale Gesetze. „Im Buddhismus und Hinduismus wird die Frage nach dem Individuum, nach dem Personsein und der Einmaligkeit des Menschen so gar nicht gestellt“, erklärt Matthias Beck, Professor für Theologische Ethik an der Universität Wien. 

Doch auch die monotheistischen Religionen weisen erhebliche Unterschiede auf. Eine Frage, die vor allem die Stammzellenforschung berührt, ist jene nach dem Zeitpunkt der Menschwerdung des Embryos. Beck erklärt, dass Judentum und Islam weitgehend der aristotelischen Beseelungslehre folgen und daher sehr liberale Positionen einnehmen. Der Theorie der Sukzessivbeseelung folgend, würde sich der Mensch in Stadien entwickeln: Der Embryo habe zuerst eine Pflanzen-, dann eine empfindungsfähige Tier- und schlussendlich eine vernunftbegabte Menschenseele. Männliche Embryonen würden die Menschenseele 40, weibliche 90 Tage nach der Empfängnis erhalten. „Das ist eine alte Philosophie, die auch Thomas von Aquin im Mittelalter übernahm. Die Christen haben das mittlerweile korrigiert. Sie sagen, von Anfang an entwickelt sich der Mensch als Mensch und nicht erst ,zum‘ Menschen“, erklärt Beck.

Der Vergleich zwischen den USA und Deutschland
Die Soziologen Jürgen Gerhards von der Freien Universität Berlin und Mike S. Schäfer von der Universität Zürich erstellten eine Studie zur öffentlichen Debatte über die Humangenomforschung in Deutschland und den USA. In der deutschen Debatte fällt die Befürwortung dieses Forschungszweigs schwächer aus als in den USA, und sie wird kritischer gesehen. In beiden Ländern dominieren wissenschaftliche und medizinische Betrachtungsweisen die Debatte. Unterschiede gibt es in der Gewichtung der Blickwinkel: In den USA werden neben wissenschaftlichen Aspekten auch ökonomische stärker betont. In Deutschland sind dagegen politische, ethische und moralische Deutungen präsenter. In den angelsächsischen Ländern gelten trotz christlicher Traditionen lockere Regelungen. 

Neben philosophischen oder religiösen Überzeugungen sind auch historische Erfahrungen von Bedeutung. „Während in den USA eine sehr liberale Vorstellung vorherrscht, gibt es in Deutschland einen kritischen Diskurs rund um die Medizin, der sehr stark von der nationalsozialistischen Vergangenheit und den Erfahrungen mit Eugenik und Euthanasie bestimmt ist“, sagt Uta Wagenmann. „Diese Kritik wurde öffentlich und auch innerhalb der Medizin erst wirklich wahr- und ernstgenommen, als sich das Aufkommen gendiagnostischer und reproduktionsmedizinischer Technologien abzeichnete. Deren Beschränkung war deshalb damals absolut gesellschaftskonform, was sich seit etwa drei Jahren aber deutlich ändert.“

In Österreich ist alles etwas rückständiger
Zu dieser Zeit machte man auch in Deutschland einen Schritt in Richtung Liberalisierung: Ein Gerichtsurteil in Folge der Selbstanzeige eines Arztes führte zur Aufweichung des Verbots von PID. Diese ist nun in Ausnahmefällen gestattet. Uta Wagenmann ist skeptisch, ob es tatsächlich bei Ausnahmefällen, die ohnehin breit definiert seien, bleiben wird. PID ist grundsätzlich verboten.
Es gibt aber gendiagnostische Untersuchungen, die bereits jetzt durchgeführt werden dürfen. Im „Neugeborenenscreening“ werden Kinder auf die monogenetische Erkrankung Phenylketonurie untersucht. Mit einer entsprechenden Diät können Betroffene einer späteren Erkrankung entgegenwirken. 

Bei den vorgeburtlichen Tests gibt es dagegen keine Therapiemöglichkeiten. Dazu zählen die Polkörperanalyse, also die genetische Diagnose der Eizelle im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation. Beeinträchtigte Eizellen werden von der IVF ausgeschlossen. Auch die DNA des Embryos wird getestet. Diese kann bereits binnen der ersten drei Schwangerschaftsmonate aus dem Blut der Mutter extrahiert werden, um im Anschluss auf Trisomie 21, auch bekannt als Down-Syndrom, aber auch andere chromosomale Veränderungen untersucht zu werden. Das führt oft dazu, dass Kinder mit Beeinträchtigungen gar nicht erst zur Welt kommen.

Österreich braucht dringend Reformen
„Aus meiner Sicht entspricht die österreichische Situation nicht mehr dem aktuellen Stand der Wissenschaft“, sagt der Genetiker Markus Hengstschläger. „Das hiesige Fortpflanzungsmedizingesetz gehört unbedingt und dringend reformiert. Wir haben auch vonseiten der Bioethikkommission dazu bereits eine entsprechende Empfehlung erarbeitet.“ Die gängigsten Argumente für die Legalisierung von PID sind die medizinischen Vorteile: Durch den Ausschluss von Embryonen mit Gendefekten könnten Schwangerschaftsabbrüche in genetisch vorbelasteten Familien vermieden werden und die Erfolgsrate der künstlichen Befruchtung erhöht werden. Für die Patientinnen bedeutet dies eine Minimierung von Fehlschlägen und weniger Stress. Außerdem möchte man der Nachfrage von Patientinnen entsprechen. 

Der Bedarf an reproduktionsmedizinischen Leistungen wird künftig aufgrund der mit zunehmendem Alter sinkenden Fruchtbarkeit wohl weiter wachsen. Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden stieg zwischen 1991 und 2012 um fast vier Jahre an und liegt nun bei knapp 29 Jahren. „Im Moment, wo gewisse Techniken in den Nachbarländern, nicht aber in Österreich möglich sind, ist eine Ungleichbehandlung gegeben, da nur Besserverdienende ins Ausland reisen können, um diese zu nützen“, sagt Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission des Bundeskanzlers und Vizerektorin der MedUni Wien. „Dies entspricht nicht dem Prinzip der Gerechtigkeit.“

Forderung nach dem Schutz ungeborenen Lebens
Der Theologe Matthias Beck sieht durch die Gentechnik den, wie er sagt, „Dreiklang der Medizin: Diagnose-Therapie-Prophylaxe“ durchbrochen: „Die Trisomie-21-Kinder werden durch eine einzige Blutabnahme herausgefischt, wenn man so sagen will, und dann in 95 Prozent aller Fälle einer Abtreibung zugeführt. Wir stellen eine Diagnose, haben aber kaum eine Therapie. Auf viele Diagnosen folgt einfach eine Abtreibung.“ 

Die Zulassung von PID für genetisch gefährdete Paare würde diese Situation noch verschärfen. Dabei sei eine genetische Disposition alles andere als eine Garantie für eine spätere Krankheit. Mittels IVF würden nun Embryonen hergestellt und mittels PID auf genetische Schäden untersucht. „Wenn ein Embryo einen Gendefekt hat, wird er weggeworfen, wenn er diesen nicht hat, wird er eingepflanzt“, so Beck. Mit dem Schutz ungeborenen Lebens – und dieses beginnt für ihn bereits bei der Zeugung, auch bei jener im Glas – ist das nicht vereinbar. 

Es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind
Auch Uta Wagenmann kritisiert den selektiven Charakter von PID, folgt aber einer anderen Argumentation: „Es gibt ein Recht auf Abtreibung. Es gibt auch ein Recht auf Kinder, aber es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind.“
Im Rahmen der Schwangerenvorsorge werden immer mehr Untersuchungen durchgeführt. Sobald einer dieser Tests eine Abweichung markiert, geraten Eltern und vor allem Frauen unter Entscheidungsdruck. „Es wird nach bestimmten Eigenschaften des Embryos und des werdenden Kindes gefahndet. Im Zusammenspiel von Technik, Verunsicherung der Eltern und der allgemeinen Aversion gegen alles, was nicht voll leistungsfähig und voll passend ist, findet letztlich eine Selektion statt“, sagt sie. Die Angst vor Behinderung, die unserer Gesellschaft ohnedies innewohne, würde in Krisenzeiten noch weiter steigen – ebenso wie die Tendenz, Nachwuchs als Humankapital zu betrachten. 

Gibt es „verantwortungsvollen“ Gentechnikeinsatz?
Ein verantwortungsvoller Umgang mit diesen Reproduktionstechnologien ist für Wagenmann in einem gesellschaftlichen Kontext, der auf Wachstum, Konkurrenz und Markt ausgerichtet ist, unwahrscheinlich. „Weil es immer Partikularinteressen und ökonomische Interessen gibt und es darum geht, Dinge zu entwickeln, sie zu verkaufen und in Umlauf zu bringen, halte ich ,Verantwortung‘ für einen Nebenschauplatz“, meint sie. Technik entstehe in solchem Kontext und bleibe einem Wachstumsdiktat unterworfen. Hinter der Befürwortung von PID stünden eben auch ökonomische Interessen. Gerade reproduktionsmedizinische Kliniken zielen auf hohe Erfolgsraten.
Für einen verantwortungsvollen Umgang „müssten sich sehr viele Punkte ändern, die nur mittelbar mit Gentechnologie zu tun haben: das Bild von Behinderung, die Vorstellung von einem gelungenen Leben, die Fokussierung der Gesellschaft auf Leistungsfähigkeit und Effektivität“, sagt Wagenmann.

Keine Aussicht auf eine intensive öffentliche Debatte
Alle GesprächspartnerInnen wünschen sich eine intensivere öffentliche Debatte. Gegenwärtig scheint sie nicht möglich: So wurde anhand des Nachrichtenmagazins Der Spiegel analysiert, dass Medizin schon jetzt die Wissenschaftsberichterstattung dominiert. Mehr Gentechnikberichterstattung ist nicht möglich, ohne die Menge des Wissenschaftsjournalismus auszuweiten – und das ist mehr als unwahrscheinlich. Außerdem belegen Studien, dass WissenschaftsjournalistInnen dazu übergehen, nicht mehr umfassend zu informieren, sondern den individuellen Nutzen medizinischer Anwendungen in den Fokus zu rücken. Obgleich ethische und moralische Betrachtungen in der Berichterstattung zunehmen, handelt es sich vorwiegend um eine Nutzendiskussion.
Eine Diversifikation der Debatte würde daher voraussetzen, die gesellschaftliche Situation in einem größeren Zusammenhang zu betrachten. Wahrscheinlicher ist es, dass sich Gentechnik und Reproduktionsmedizin durch das ständig steigende Einkommensgefälle von selbst regelt. Kurz: Wer Geld hat, kauft das perfekte Kind aus der Retorte. Die übrigen dürfen weiter Sex und ungewollte Schwangerschaften haben.

Erschienen in Falter - Heureka Schluss mit Sex? (1/14)