Mittwoch, 21. November 2012

Klimaverlierer in Österreich

Der Klimawandel steht nicht bevor, wir sind bereits mitten drin. Auch in Österreich. Noch halten sich die Auswirkungen des Klimawandels in Österreich in Grenzen. Sie werden ab der Hälfte dieses Jahrhunderts verstärkt spürbar werden. Die Veränderung bei Temperatur und Niederschlag gehen weiter, wir werden uns dem anpassen müssen.

„In Anbetracht von Ereignissen wie ,Sandy‘ entsteht momentan der Eindruck, wir seien die Insel der Seligen. Dem ist nicht so“, warnt Erwin Mayer, Ökonom der Umweltagentur denkstatt, vor den Folgen des Klimawandels in Österreich. Auch wenn uns Katastrophen wie ,Sandy‘ gegenwärtig erspart bleiben, ist der Klimawandel in Österreich wie im gesamten Alpenraum bereits deutlich ausgeprägt“, erklärt Michael Hofstätter, Klimaforscher an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik: „Im Großraum der Alpen haben wir seit der Industriellen Revolution einen Temperaturanstieg von plus 1,6 Grad, während er im globalen Mittel nur bei etwa 0,8 Grad liegt. Zwischen 1860 und 1930 haben sich die Temperaturen nur wenig geändert. Einen deutlichen Temperaturanstieg kann man erst ab Mitte des letzten Jahrhunderts und ganz massiv ab 1980 ausmachen.“



Die Schneefallgrenze ist um 160 Meter gestiegen

Die Drastik dieses Vorgangs wird besonders augenscheinlich, wenn man den Temperaturanstieg in die Höhe der Schneefallgrenze übersetzt. Folgt man Michael Hofstätter, gilt die Formel, dass für ein Grad Erwärmung die Schneefallgrenze um hundert Meter nach oben wandert – in den letzten Jahrzehnten um 160 Meter. Dies hat Auswirkungen auf die Gletscher: Sie befinden sich weiterhin auf dem Rückzug.

Für Erwin Mayer ist ein völlig gletscherfreies Österreich bis zur Jahrhundertwende kein gänzlich unrealistisches Szenario: „Die Alpen waren schon ohne menschliches Zutun gletscherfrei – dieses Mal hätte es aber klare anthropogene Ursachen.“ Ökonomisch betrachtet, betrifft die Temperaturerwärmung vor allem den Wintertourismus: Es steigt die Schneefallgrenze, auch ist mit einer früheren Schneeschmelze zu rechnen, wie Wolfgang Schöner, Klimafolgenforscher an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, erläutert. Das reduziert die Anzahl der möglichen Skipisten sowie die Dauer der Saison. Besonders betroffen sind vor allem Wintersportorte in niedrigen und mittleren Lagen. Mit der Schneefallgrenze steigt auch die des Dauerfrostbodens. Das macht es schwieriger, Gebäude und Infrastruktur in hochgelegenen Regionen zu errichten. Was ehemals als „Zement der Alpen“ bekannt war, ist als Fundament kaum mehr geeignet. Felsen, die nicht mehr durch den Dauerfrost geschützt sind, beginnen zu erodieren und werden instabil. Bereits bestehende Gebäude müssen oft mit großen Mengen Stahlbeton gesichert, einzelne Hütten sogar aufgegeben werden.



Die Zahl der gefährlichen Bergzonen steigt

Durch den Klimawandel sind größere Teile des Gebirgsmassivs von natürlicher Erosion betroffen. Dadurch werden Gesteinsmassen ins Rollen kommen und Felsstürze zunehmen – damit wächst auch die Zahl alpiner Gefährdungszonen. Die Folgen der steigenden Schneefallgrenze werden in der Form von Hochwasser auch noch in voralpinen Regionen spürbar sein. Erwin Mayer macht dafür den „Klospülungseffekt“ verantwortlich: Die winterlichen Niederschläge in Form von Schnee und Eis fielen bislang auf schnee- und eisbedeckte Flächen und wurden dort sofort gebunden. Die Gletscherschmelze und das Abtauen der Schneemassen setzten diesen Niederschlag langsam in unsere Gewässer frei. Das führte zu einer „relativen Glättung der Pegelstände“.

Je geringer die Gletschermasse und je höher die Schneefallgrenze, desto mehr Winterniederschlag fällt – als Regen – bis hin-auf auf 2000 oder 3000 Meter. Und desto schneller fließt das Wasser wieder in die Täler ab, was den Pegelstand der Gewässer binnen weniger Stunden drastisch steigen lässt. Erwin Mayer folgert daher: „Die sinkende Schneebedeckungsdauer führt zu einer Tendenz, dass Überflutungen wie im Kärntner Drautal öfter auftreten werden.“ Auch Wolfgang Schöner hält es für wahrscheinlich, dass weniger Niederschlag in Form von Schnee fallen wird. Darüber hinaus rechnet er mit einer Niederschlagszunahme im Winter.



Wer leidet unter Steinschlag und Hochwasser?

Wen Steinschläge oder Hochwasser treffen, hängt auch davon ab, wo man lebt. In den gefährdeten Lagen findet man vor allem einkommensschwächere Haushalte, was Erwin Mayer auf die niedrigeren Grundstückspreise zurückführt. Dass dort überhaupt gebaut werden durfte, liegt daran, dass Raumplanung und Festlegung von Gefährdungszonen lange Zeit in lokaler Kompetenz lagen. Gemeinden standen so vor einem Dilemma: Gefährdete Gebiete zur Bebauung freigeben, um über die Einwohnerzahl mehr Kommunalsteuer zu generieren, oder auf Wachstum verzichten und Sicherheitsbedenken den Vorzug geben?

Dennoch sieht Mayer die Bemühungen im Hochwasserschutz auf einem guten Weg – hier sei vor allem das Hochwasser von 2002 besonders lehrreich gewesen und hätte zu einem Umdenken geführt: „Man muss den Flüssen zwischen den Gemeinden mehr Platz bieten, damit sie sich ausdehnen können. Die alte Methode – wir kanalisieren von der Quelle bis zum Schwarzen Meer – hat nicht funktioniert, sondern zu erhöhten Geschwindigkeiten und noch stärkeren Hochwässern geführt.“

Als nachhaltig für den Hochwasserschutz bezeichnet er eine striktere Raumordnung. Teilweise wird diese auch Rückbauten fordern müssen, um zu Überflutungsflächen und zu einer Steigerung des Rückhaltevermögens des Bodens zu kommen. Dies lässt sich durch einen höheren Humusanteil und eine geringere Verdichtung schaffen.



Wird Österreich wesentlich trockener werden?

Ein erhöhtes Rückhaltevermögen des Bodens würde sich bei Hochwasser, aber auch in Trockenperioden bezahlt machen. Die steigenden Temperaturen werden, da sind sich Hofstätter und Schöner sicher, die Niederschlagshäufigkeit im Sommer senken. Die beiden Forscher gehen auch davon aus, dass das Niederschlagsvolumen bei einzelnen Ereignissen zunehmen könnte, weisen aber darauf hin, dass hinter dieser Annahme viele Fragezeichen stehen. Weder für unsere Trinkwasserversorgung noch für die Stromerzeugung werden diese Trockenperioden längerfristig problematisch sein.

Dies gilt jedoch nicht für die Landwirtschaft. Vor allem im Osten Österreichs kämpft sie schon jetzt gelegentlich mit Dürreperioden. Doch auch darauf könne man sich einstellen, erklärt Willi Haas: „Zukünftige Wasserknappheit lässt sich durch den Einsatz effizienterer Bewässerungssysteme bewältigen. Das setzt die effektive Verbreitung von Wissen darüber voraus, welche Pflanzen in welchen Phasen wie viel Wasser brauchen.“ Mittelfristig werden die Landwirte wohl nicht umhin kommen, ihre Fruchtfolgen und Pflanzensorten an die sich nun rascher wechselnden Bedingungen anzupassen.

Die hohen Temperaturen führen in der Land- und Forstwirtschaft zu neuartigem und potenziell stärkerem Schädlingsbefall. Unklar ist, wie die steigenden Temperaturen die Qualität der Gewässer beeinflussen und wie sie sich auf die Pegelstände der von der Schifffahrt genutzten Gewässer auswirken werden.



Die Österreicher geraten in Hitzestress

Die steigenden Sommertemperaturen werden zu mehr Hitzestress bei der Bevölkerung führen. Während der Hitzewelle im August 2003 in Frankreich erhöhte sich die Sterblichkeitsrate um 55 Prozent, es kam zu über 14.000 Todesfällen. Besonders betroffen sind ältere Menschen, Kinder und Kranke. „Es gibt natürlich Gebiete, die mikroklimatisch besonders ungünstig sind. Dort gibt es sehr wenig Grünraum, dafür vermehrt Luftstauzonen, es herrscht ein geringer Luftdurchzug. In diesen Stauzonen kann sich warme Luft besonders lange halten. Wenn dort ältere Menschen wohnen, kann es kritisch werden“, führt Willi Haas aus.

Es werden daher vor allem die Städte besonders stark unter den steigenden Temperaturen leiden. Erwin Mayer erklärt das so: „Es gibt einen Hitzeinseleffekt. Beton ist eine riesige Speichermasse, nimmt sehr viel Energie auf und gibt sie erst langsam wieder ab. Das heißt, die Hitzeperioden werden in den Städten noch dramatischer sein als am Land.“ Die Zahl aufeinanderfolgender Tropennächte, also jener Nächte, in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad Celsius fällt, werden infolge mangelnder Abkühlungsperioden zunehmen. Abkühlung lässt sich mit Klimaanlagen erreichen. Damit würde aber unser Energiebedarf steigen. Einsparungen durch kürzere Heizperioden werden durch die Kosten der Klimaanlagen deutlich überkompensiert.



Der Klospülungseffekt in den Städten

Nicht nur aufgrund der CO2-Emissionen ist eine Zukunft mit weniger Autos erstrebenswert: „Je weniger motorisierter Individualverkehr im urbanen Raum, desto mehr Möglichkeiten gibt es, mikroklimatische Verbesserungen herbeizuführen“, erklärt Willi Haas. „Dazu braucht man gestaltbaren Raum, der ohne größere Konflikte zur Verfügung steht. Hier können Synergien von Anpassung und Klimaschutz hergestellt werden.“

Die Idee: Kühlung nicht durch technische Anlagen, sondern durch die Errichtung von Grünflächen anstelle von Straßen oder Stellplätzen. Das brächte natürliche Beschattung ebenso wie Verdunstungskühle, erläutert Erwin Mayer. „Wie wir das von unserer eigenen Haut kennen, ist die Verdunstung von Wasser ein effizientes und billiges Kühlmittel – besser als jede Kühlanlage im Sommer. Wenn wir das Wasser länger in der Stadt halten und damit einen Verdunstungsprozess auslösen, können wir die Stadt massiv kühlen.“

Für die Stadt gilt schon jetzt, was uns in den Alpen vermehrt bevorsteht: der Klospülungseffekt. Durch die Versiegelung der städtischen Oberfläche bleibt der Niederschlag als mögliches Kühlmittel nie lange in der Stadt, sondern wird über Kanäle rasch abgeleitet. Es gelte daher, mehr Biomasse in die Stadt zu bringen, um so Wasser für die Verdunstung speichern zu können. Das kann spektakulär sein wie die vertikalen Gärten des Botanikers und Künstlers Patrick Blanc im Innenhof des Sofitel-Hotels am Donaukanal. In den meisten Fällen aber wird es reichen, mehr Grünflächen zu schaffen und Fassaden und Dächer zu begrünen, um spürbar für Kühlung zu sorgen.



Afrikas Erde den Chinesen und Europäern

Es wächst die Gruppe der Menschen, die dem Klimawandel nicht durch Anpassung, sondern nur mit Absiedlung begegnen kann. Für viele bedeutet dies den Abschied aus ihrer Heimat. Vor allem Gebiete in Afrika sind massiv von Dürre und Bodenerosion betroffen. Dennoch sichern sich chinesische und europäische Unternehmen hier fruchtbares Land für die Produktion von Nahrungsmitteln und Agrartreibstoffen – Flächen, die der Nahrungsmittelproduktion für die lokale Bevölkerung vorenthalten bleiben. Ein Szenario, das an die große irische Hungersnot zwischen 1845 und 1849 erinnert: Missernten, Export von Nahrungsmitteln – und ein folgender Massenexodus.

„Laut Schätzungen des Environmental Change Institute der Universität Oxford gibt es im Moment 50 Millionen durch Umwelt und Klima bedingte Flüchtlinge weltweit. Im Jahr 2050 wird diese Zahl auf rund 200 Millionen steigen. Die sozialen Folgen des Klimawandels lassen sich noch schwer abschätzen, da diese von dessen Ausmaß abhängen werden. Aber nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa wird das Thema Klimaflüchtlinge ganz zentral sein“, sagt Adam Pawloff, Politikwissenschafter an der BOKU Wien. Die größten Verlierer des Klimawandels in Österreich sind also jene, die sich auf den Weg hierher machen.



Österreich versagt bei der Einhaltung der Klimaziele

Für Adam Pawloff stößt das Modell Nationalstaat im Zuge des Klimawandels an seine Grenzen. Das beständige Scheitern internationaler Klimaverhandlungen bestätigt ihn in dieser Sicht: „Da gibt es natürlich aufgrund sehr unterschiedlicher, nationaler Ausgangslagen sehr unterschiedliche Interessen. Bis jetzt hat man es nicht geschafft, zu globalen Entscheidungen zu kommen und effektive Maßnahmen zu setzen.“

Die oberste Direktive der Klimafolgenbearbeitung laute noch immer: so viele Emissionen wie möglich einsparen, um zukünftige Generationen vor noch größeren Folgen des Klimawandels zu bewahren. „CO2 wirkt sehr langfristig. Wenn wir jetzt eine Änderung setzen, dann wirkt sie erst in 50 oder 60 Jahren“, sagt Schöner. „Das erscheint so weit weg, dass es in der wirtschaftlichen und politischen Planung oft nicht berücksichtigt wird und kein Umdenken zu längerfristigen Perspektiven auslöst.“

Erwin Mayer resümiert die heimische Klimaschutzpolitik so: „Wir haben in Österreich ein sehr niedriges Emissionsreduktionsziel und keine Ambitionen, ein höheres zu setzen. Man übernimmt nur das, was man in Brüssel nicht verhindern konnte.“ Auch Willi Haas’ Fazit fällt kritisch aus: „Von seiten der Bundesregierung ist hier nur wenig Interesse zu bemerken, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Österreich ist bei der Einhaltung der Klimaziele alles andere als wegweisend.“

Willi Haas bemängelt auch, dass unser Gesundheitssystem nicht darauf vorbereitet ist, betroffene Menschen über Gefahren zu informieren und bei Bedarf zu unterstützen – etwa im Falle von Hitzewellen. Adam Pawloff regt an, sich um die Errichtung eines Netzwerks von Katastrophenschutzzentren zu bemühen, damit im Ernstfall Einsätze effektiv koordiniert werden können.

Für Erwin Mayer knüpft sich daran auch die Frage nach den Kosten von Klimafolgen. Im Fall von Extremphänomenen wie Hochwasserkatastrophen werden diese in der Regel aus dem allgemeinen Budget über einen Zuschuss aus dem Katastrophenfond finanziert. Alternativ könnte er sich vorstellen, einen Topf zu schaffen, der stärker das Verursacher-Prinzip berücksichtigt: „Das heißt, je mehr CO2 jemand ausstößt, desto mehr müsste er in den Topf einzahlen. Das würde auch einen sozialen Ausgleich schaffen.“

Der Klimawandel stellt jedoch nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft vor schwierige Aufgaben. Sie muss neue Klimamodelle entwickeln, die genauere Aussagen über regionale Auswirkungen zulassen. Dieses Wissen kann genutzt werden, um sozial-ökologische Systeme auf ihre Anfälligkeit gegenüber klimatischen Veränderungen zu untersuchen. Willi Haas meint darüber hinaus, dass man in vielen Bereichen schon wüsste, was zu tun sei. Es fehle jedoch der auf Kurzfristigkeit ausgerichteten Politik der Anreiz, dieses Wissen zur Vermeidung langfristiger Nachteile umzusetzen. „Es ist sehr wichtig zu schauen, was die Bedingungen derzeitigen Handelns sind und was sich an diesen ändern müsste, damit Reaktionen auf den Klimawandel entschieden und effektiv ausfallen.“



Willi Haas, Sozialökologe, IFF Wien: „Wenn wir in den nächsten Jahren nicht unsere Handlungsfähigkeit drastisch erhöhen, haben wir in den nächsten zehn Jahren noch kein Problem. Danach werden wir aber zu einer von Klimafolgen getriebenen Gesellschaft mit drastisch reduzierten Handlungsspielräumen.“

Michael Hofstätter, Klimaforscher, ZAMG: „Man müsste das Konsum- und Mobilitätsverhalten ändern. Dazu braucht es den politischen Willen, das der Wirtschaft schmackhaft zu machen.“

Erwin Mayer, denkstatt.at: „Man muss sich auch eine Einigung mit der Versicherungswirtschaft überlegen.“

Adam Pawloff, Politikwissenschafter, BOKU Wien: „Wir sehen zunehmend, dass alle größeren Probleme die Grenzen der Nationalstaaten überschreiten: Klima, Luftverschmutzung, Wassernutzung. Konflikte werden sich erheblich verschärfen.“


Erschienen in Falter Heureka - Ausgabe: Klimaverlierer in Österreich (5/12)



Dienstag, 20. November 2012

When the devil comes knocking

Das kanadische Ausnahmelabel Constellation Records feiert seinen 15. Geburtstag. Rechtzeitig bevor insgesamt 9 Bands des Labels, darunter Silver Mt. Zion, Do Make Say Think und Sandro Perri, an zwei Tagen das Programm des Bluebird-Festivals bestreiten, wollen wir mit einer Rückschau gratulieren.


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BILD: Constellation Records

Montréal wäre – anders als Toronto und abgsehen von „betrunken A&R-Leuten, die für irgendein Festival in die Stadt kommen“ – traditionell immer schon frei von Major Labels gewesen. Dies sei einer der Gründe, so erklärt Don Wilkie, Co-Gründer von Constellation, warum Montréal eine solche Strahlkraft auf viele Künstlerinnen und Künstler ausgeübt hätte. In den frühen 90ern hätte sich die Stadt natürlich auch noch durch die niedrigen Mieten ausgezeichnet. „Das, kombiniert mit der Tatsache, dass es eine gewisse Statik in Montréal gibt – die in anderen kanadischen oder nordamerikanischen Städten so nicht existiert – die viele Menschen hierher zog und nach wie vor hierher zieht ... All diese Faktoren haben eine beträchtliche Zahl an Leuten, darunter viele hochkreative Leute angespült, dass es vielleicht gar keine Frage war, ob alles mit der Zeit eine kritische Masse erreichen und auf viele großartige Arten explodieren würde“, beschreibt Constellations Don Wilkie das Montréal der frühen 90er. Diesem kreativen Reaktor, dessen Brennkammer das Quartier Mile End bildete, fehlten allerdings die Mittel diese Energie auch abzugeben und Output zu generieren: Es mangelte an Spielstätten und Auftrittsmöglichkeiten genauso wie an Labels. 

Montréal - Tote Stadt
Glaubt man dem Text, der einen auf der Startseite der alten Label-Homepage begrüßte, ist es allerdings verwunderlich, dass irgendjemand freiwillig dort seine Zelte aufschlagen wollte: „Montréal ist eine befremdliche, traurige und zerbröckelnde Stadt. Das Gespenst des Québec-Nationalismus und der darauf folgende Abfluss des Kapitals der englischsprachigen Eliten, kombinieren politische und ökonomische Ungewissheiten mit einer gesunden Portion kultureller Unsicherheit. Während sich am Horizont beständig ein Entfremdetsein abzeichnet, trinken und rauchen wir und nehmen fatalistische Haltungen an, leben von der Wohlfahrt, Shit-Jobs, permanent schwindenden Zuschüssen, finden kalten Trost in der zerfallenden städtischen Geographie verlassener Gebäude, den kaputten Straßen, den niedrigen Mieten.“ Aber was Constellation und viele seiner Artists auszeichnet ist ein Selbstverständnis von kollektiv künstlerisch-politischer Praxis, die es der Miserere individualisierter Prekarisierung entgegenzustrecken gelte: „Montréal, wie jede andere Stadt, ist ein Ort um gemeinsam Fluchtrouten zu planen. Die Gründe um hier zu sein, sind unterschiedlich aber das Muster ist dasselbe: ein Mangel an Möglichkeiten und ein Überschuss kultureller Entfremdung schaffen ihre eigen fragile Community.“ 

Godspeed!
Teil dieser sind auch Efrim Menuck und Mauro Pezzente (beide GY!BE), die beginnen erste Auftrittsmöglichkeiten zu schaffen: Menuck betreibt das Hotel2Tango – das mittlerweile zu einem vollanalogen Tonstudio umgebaut wurde und auf vielen Aufnahmen des Labels für einen unverwechselbar klaren aber gleichzeitig warm knisternden Sound sorgt – und Mauro Pezzente gründet Sala Rossa und Casa del Popolo. Dieses entstehende Angebot war wohl einer der Gründe, warum Ian Ilavsky und Don Wilkie ihre ursprüngliche Idee eine Location zu betreiben fallen lassen und sich stattdessen auf das Label konzentrieren. Die Labels, die in Montréal bereits bestanden, kamen für die meisten Bands nicht als Langzeitlösung in Frage. Sie fungierten eher als Sprungbrett und dienten letztlich dem Export von Talent, führt Wilkie aus.

„Unsere Herangehensweise an die Gründung von Constellation entsprach, neben einem Traum davon was passieren könnte, mehr einem Kunstprojekt. Wenn man die finanziellen Zwänge beiseite lässt, dann ist das die Art wie wir arbeiten wollen. Und so lange wir weiterhin unsere Miete durch andere dürftige Mittel finanzieren können, können wir wie ein Kunstprojekt agieren. Wir können all diese Entscheidungen, die nichts mit Kommerz zu tun haben, treffen und die sich nur darum drehen, Kunst auf eine höchst unkorrumpierte Art zu veröffentlichen. Wäre das nicht wunderschön?“, skizziert Wilkie den Constellations Masterplan. Dass es möglich war diese Utopie weitgehend umzusetzen, führen die beiden Labelmacher auf viele glückliche Umstände zurück. Einer davon ist wohl auch der Release von Album Nummer Drei, der auf die Veröffentlichung zweier Tonträger von Ilavskys eigener Band Sofa folgte: Godspeed You! Black Emperors „F♯ A♯ ∞“ (sharp f, sharp a, infintiy). GY!BE erspielen sich eine stetig wachsende Anhängerschaft in den Konzertsälen und Redaktionen der einschlägigen Magazine und Feuilletons der Qualitätspresse. 

Mit der Band rückt auch zunehmend das Label in den Mittelpunkt. Weitere Releases von GY!BE und verwandter Projekte, wie A Silver Mt. Zion, Fly Pan Am oder Hrsta, aber auch Do Make Say Think und Carla Bozulich aka Evangelista setzten Constellation als Postrockmetropole auf die Landkarte. Ein Ort, an dem man nie wirklich sein wollte, lag dieser doch auch noch im langen Schatten von GY!BE. Wilkie dazu: „Ein paar Jahre lang war es völlig egal, was wir veröffentlichten – Reviews begannen mit einem oder fünf sinnlosen Absätzen über Godspeed! und / oder „Post-Rock.“ Der Katalog des Labels ist tatsächlich nicht sehr groß, aber zu divers um in nur eine Schublade gesteckt zu werden. Was die Artists auf Constellation verbindet, ist in vielen Fällen ein Hang zum Experiment und der Versuch neue musikalische Ausdrucksweisen zu entwickeln und umzusetzen. Die Referenzen und musikalischen Verbeugungen sind so vielschichtig, wie umfangreich und erstrecken sich von Hardcore, über Punk, Electronica, Ambient, Folk bis hin zu Kammermusik. 

Anno 2004
Wie divers der Katalog des Labels tatsächlich ist, zeigte bereits ein erster Besuch im Mai 2004 im Wiener B72: Mit dabei die furiose Singer/Songwriterin Elizabeth Anka Vajagic, das experimentierfreudige Viola-Schlagzeug Duo Hanged Up und Sandro Perris Noise-Ambient-Folk Wunder Polmo Polpo – Hangedup und Sandro Perri sind auch Teil des Lineups der aktuellen Tour. Auch Jem Cohens Auftragswerk Empires of Tin, live dargeboten von Vic Chesnutt, Guy Piccotto und SMZ anläßlich der Viennale 2007, hinterließ bleibenden Eindruck. Viel der Artists verbindet tatsächlich ihre Beheimatung im Großraum Montréal. Das liegt nicht an einer etwaigen Québec-nationalistischen Signing-Policy des Labels, sondern verweist auf die Arbeitsweise, die sich an Indie-Labels der späten späten 70er und 80er orientiert. Deren „Ethos“ gilt als Vorbild für das eigene Label, wie Ian Ilavsky schildert: „Und mit ‚Ethos‘ meine ich nicht ‚hier ist der Katechismus‘, sondern, dass wir alle die Erschaffung neuer Werte leben und an dieser Anteil nehmen. Dieses Versprechen scheint mir in den letzten zehn Jahren bemerkenswert unerfüllt geblieben zu sein.“ Für Ilavsky ist es daher nicht die Größe, die Independent Labels von Majors unterscheidet, sondern ein politische Reflexion des eigenen Standpunkts, der einen „Idealismus bezüglich eines größeren kulturellen Diskurses“ einschließen müsse.

Als ganz konkrete Konsequenz des Bruch mit der Industrie und ihrem Funktionieren, arbeitet man ohne Verträge – gelebter Indieethos mit Handschlagqualität quasi: „Wir bescheißen dich nicht – wir bitten dich darum uns nicht zu bescheißen“, ist Wilkie folgend das ganz einfache Credo und fügt hinzu: „Darüber hinaus, wenn Artists, mit denen wir arbeiten, beschließen, dass sie nicht mehr mit uns arbeiten wollen, dann ist das Letzte, das wir uns wünschen, ein Blatt Papier hochzuhalten und zu sagen: mhm, du mußt aber.“ Damit das klappt, brauche es aber sehr viele persönliche Face-to-Face Gespräche, und die sind natürlich leichter zu bewerkstelligen, wenn man in der gleichen Stadt wohnt. Zugegeben ein paar recht prominente Ausnahmen gibt es: Carla Bozulich kommt eigentlich aus LA, The Dead Science aus Seattle, die Tindersticks aus Nottingham und Vic Chesnutt aus Athens, Georgia. 

Vertrauen und Freundschaft sind es, die letztlich über eine Zusammenarbeit entscheiden: „Independent bedeutet für uns die Bekräftigung echter Gemeinschaft, echter Gespräche und des echten Austauschs künstlerischer Arbeit. Die dringliche Aufgabe ist es, echte Beziehungen durch ein Netzwerk der Verbreitung und Betrachtung von Kultur, das sich darum bemüht den wahren Zustand unserer menschlichen Umstände anzusprechen, aufzubauen und zu fördern – eine Beziehung basierend auf Freiheit, Kritik und Dialog“, stand im Manifest des Labels zu lesen, bevor dieses mit dem Relaunch der Homepage den Weg alles Virtuellen ging (Google-Search). Das zentrale Element von Constellation Records ist wohl im Idealfall eine Dopplung des Widerständischen – das Widerständische im eigenen Agieren als Label und in den so veröffentlichten Werken. Beide Aspekte sind so als Kritik an den Verhältnisse zu verstehen – die Paarung Constellation und GY!BE oder SMZ kann dafür wohl als idealtypisch gelten. 

Bedeutungsvolle Kommunikation
Die Arbeitsweise des Labels versteht sich als Kritik am Funktionieren und den Auswirkungen kapitalistischer Produktion, vor allem im Kontext der Musikindustrie. Constellations Kritik verläuft dabei im Wesentlichen anhand folgender Leitlinien: Im Zentrum steht die Trennung und Hierarchisierung von Produzenten und Konsumenten, und die dadurch bedingte und ermöglichte Standardisierung von künstlerischen Werken. Die so entfesselte homogenisierende Kraft der standardisierten Musikproduktion würde andere künstlerische Ausdrucksweisen aber auch Arbeitsweisen marginalisieren. Da diese dominante Form der Produktion künstlerische Werke auch nur über ihre Quantifizierbarkeit verarbeiten könne, würde die Qualität des Werkes der Musikindustrie immer äußerlich bleiben. Über die eigene Wirksamkeit macht man sich derweil allerdings keine Illusionen: „Offensichtlich ist Rock-Musik zu veröffentlichen – wie experimentell und grenz-überschreitend auch immer – nur mittelbar eine politische und soziale Praxis. Nichtsdestotrotz hoffen wir ein klein bisschen zu einer bedeutungsvollen Form von Kommunikation, die von Kunst angeleitet wird, beizutragen.“ 

Constellation werden also weiter versuchen wie ein Kunstprojekt zu operieren – Wilkie fügt jedoch hinzu: „Aber wir lassen uns davon nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir selbst nichts mit kommerziellen Aspekten zu tun hätten, versuchen aber Entscheidungen zu treffen, die mehr mit Kunst als mit Profitmaximierung oder was immer es ist, dass Kommerz will, zu tun haben.“ Es mag zwar nicht möglich sein, sich kapitalistischen Mechanismen komplett zu entziehen, aber ist möglich sich den schlimmsten Auswirkungen zu wiedersetzen. Eine davon die Kommodifizierung von Kunst. So sind auch die aufwendigen Verpackungen der Platten nicht bloß ein hübsches Gimmick um den Verkauf anzukurbeln sondern Ausdruck dieser Haltung und dieses Anliegens: „Platten zu machen als Berufung und Handwerk, so weit von einer ‚Ware’ entfernt wie möglich.“ 

Auch die Tatsache, sich so viele Gedanken über die Marktförmigkeit der Musikproduktion zu machen, ist zentraler Bestandteil des Anliegens nicht marktförmig zu agieren. Wilkie erklärt warum: „Es ist sehr, sehr, sehr einfach und sehr billig sich hinzusetzen und sich romantische Vorstellungen davon zu machen, was man sein und werden wird, und wie man sich nicht verkaufen wird und so weiter. Wenn du nicht wirklich was zu verkaufen hast, dann will auch niemand kaufen.“ Aber wenn die Majors dann vor der Tür stehen und dir Geld anbieten würden, das du dringend brauchst, dann sei es um einiges schwieriger 'Nein' zu sagen. Aber Wilkie weiter: „Wenn du zumindest mit den Leuten mit denen du arbeitest, ein gemeinsames Verständnis davon teilst, was du wirklich machen willst, dann kannst du dich zumindest irgendwann daran erinnern, dass du völlig dazu in der Lage bist 'Nein' zu sagen, wenn der Teufel kommt, um an deine Tür zu klopfen.“

Das Bluebird Festival feiert ab 21. November 2012 einen Schwerpunkt zu Constellation mit u.a. Thee Silver Mount Zion Memorial Orchestra, Eric Chenaux, Sandro Perri, Do Make Say Thing und Hangedup (von oben nach unten). Zum vollständigen Programm geht es hier:

Erschienen auf TheGap.at.
 

Mittwoch, 24. Oktober 2012

Energiewende – oder was?

Der Begriff stammt aus einem 1980 veröffentlichten Bericht des Instituts für angewandte Ökologie in Freiburg. Was aber ist nun mit der Energiewende? Glaubt man dem Mythos, ist es Prometheus, der den Umgang der Menschen mit Energie maßgeblich verändert hat. Er erstreitet für sie das Feuer, lehrt sie aber auch Ackerbau und Viehzucht – und sorgt damit für die beiden ersten großen Zäsuren in der Geschichte der menschlichen Energienutzung.

Während die Menschen als Jäger und Sammler nur passiv die Energieflüsse ihrer Umwelt nutzen können, gehen sie in der Agrargesellschaft dazu über, diese aktiv zu gestalten. Man spricht von einem „kontrollierten Solarenergiesystem“, in dem die Menschen die Reproduktion der Nahrung, vor allem die Photosynthese der Pflanzen und anderer Ressourcen gezielt zu steuern versuchen. Es wird möglich, auf einer begrenzten Fläche einen größeren Teil der Produktivität für die eigene Ernährung zu verwenden. Der Energiedurchsatz pro Kopf der Agrargesellschaften macht bereits ein Vielfaches von jenem der Jäger-und-Sammler-Kulturen aus. Sie schöpfen gezielt für sich und ihre Nutztiere Energie aus agrarischen und nicht mehr natürlichen Ökosystemen – sie ernten. Dabei müssen sie zwangsweise nachhaltig sein, also ein Gleichgewicht zwischen der Größe der Bevölkerung, der zu deren Ernährung benötigten Agrarflächen und der zur Bewirtschaftung nötigen Arbeitskraft finden.



Energiewende in Afrika

Mit der Nutzung fossiler Energieträger geht die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer solchen Balance und mit ihr die des nachhaltigen Wirtschaftens schrittweise verloren. „Die Energiewende hin zu fossilen Energieträgern beginnt im England des 17. Jahrhunderts und findet in weiten Teilen Afrikas erst jetzt statt. Die Verwendung fossiler Energien in nennenswerten Größen ist dort in vielen Staaten noch am Anfang“, erklärt Marina Fischer-Kowalski, Sozialökologin an der Universität Klagenfurt.

Die Auswirkungen dieser Wende illustriert sie am Beispiel Englands: „Mithilfe der Kohle konnte etwa England sein Energievolumen binnen weniger Jahrzehnte vervielfachen, obwohl es noch keine Dampfmaschinen oder eine große Industrie gab.“

Dieses neue, fossile Energiesystem ist aber kein Ersatz für das bestehende, auf Biomasse basierende – es setzt darauf auf. Die Steigerung des fossilen Energieeinsatzes geht mit einer stärkeren Nutzung von Biomasse einher. Durch den Einsatz fossiler Energieträger kann die Produktivität von Agrarökosystemen massiv gesteigert werden. Industriegesellschaften, die viel weniger Brennholz als Agrargesellschaften verbrauchen, weisen im Bereich der Biomasse einen ähnlich hohen Energiedurchsatz auf. Da sie zusätzlich noch fossile Energie nutzen, ist ihr Energiedurchsatz pro Kopf gut dreimal so hoch wie der von Agrargesellschaften.

Global betrachtet, hielten sich die Energieflüsse von Biomasse und fossiler Energie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die Waage – der weltweite gesellschaftliche Stoffwechsel hat heute ein viermal so hohes jährliches Volumen erreicht und wird von fossiler Energie dominiert.



Fossile Energie und Revolution

Die Industrialisierung greift in den gesamten gesellschaftlichen Stoffwechsel ein. „Ich konnte anhand von 15 Ländern zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten zeigen, dass die meisten bürgerlichen Revolutionen immer dann stattfanden, wenn der Anteil fossiler Energie am Primärenergiebedarf einen Anteil von fünf bis sieben Prozent erreicht hatte“, sagt Fischer-Kowalski. Sie illustriert dies so: „In England war das etwa 1640, in China und Indien erst 1949 der Fall. Bei der Französischen Revolution lag man bei vier und 1848 in Österreich bei sechs Prozent.“

In Ländern, in denen Revolutionen stattfanden, hat sich die Anwendung fossiler Energie rasant verbreitet. Dort, wo es keine Revolution gab, wie in Italien oder den Niederlanden, war der Übergang zum fossilenergetischen Regime langsamer.



Sieg des Bürgertums über den Adel

Wenn sich die Befeuerung der sozialen Konflikte und der Kohlekessel gegenseitig verstärkten, war es den etablierten Kräften der Aristokratie kaum möglich, diesen Konflikt zu ersticken. Der Siegeszug des Bürgertums ging Hand in Hand mit jenem fossiler Energie.

„Der Aristokratie mit ihrem Grundbesitz entstand eine bedrohliche Konkurrenz durch die bürgerlichen Kapitalbesitzer. Plötzlich gab es einen gesellschaftlichen Reichtum, der nicht mehr auf der aristokratischen Abschöpfung der Bauernarbeit beruhte“, erklärt Fischer-Kowalski.

Den Grundlagen dieses neuen gesellschaftlichen Reichtums sind aber von jeher Grenzen gesetzt. Auf der Inputseite erschöpfen sich die fossilen Energievorkommen, auf der Outputseite die Fähigkeit der Umwelt, Abfälle und Emissionen aufzunehmen. An exakt dieser Stelle befinden wir uns am Beginn des 21. Jahrhunderts.



Übergang zu neuer Energienutzung

„Meinem Eindruck nach sind wir an einem Takeoff-Punkt, wo der Umstieg auf erneuerbare Energieträger eine vielleicht sogar unerwartet starke Beschleunigung erfahren wird. Die Preise fossiler Energieträger und aller anderen Naturressourcen haben sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht – das schafft neue Rahmenbedingungen“, sagt
Fischer-Kowalski. Auch Reinhard Haas, Energieökonom an der TU Wien und Leiter des Studiengangs „Erneuerbare Energie in Mittel- und Osteuropa“, hält fest: „Wir befinden uns in dieser Transformation. Das ist eine kontinuierliche Entwicklung, vor allem in Europa. Der Anteil der erneuerbaren Energieträger ohne Wasserkraft ist EU-weit zwischen 1997 und 2010 von einem auf neun Prozent gestiegen.“

Gleichzeitig weist er auf eine gegenläufige Tendenz in Österreich hin: „Es hatte bereits sehr früh hohe Anteile an Wasserkraft – auch eine erneuerbare Energiequelle. 1990 lag ihr Anteil an der Stromerzeugung bei siebzig Prozent. Im Moment haben wir einen relativ konstanten Anteil von 65 Prozent.“

Es wird nicht mehr Energie geben

„Der Unterschied zur fossilen Energiewende ist, dass die aktuelle Energiewende keine Vermehrung der gesellschaftlich verfügbaren Energie verspricht“, erklärt Fischer-Kowalski. „Die reichen Industrieländer haben seit der ersten Ölkrise in den frühen Siebzigerjahren ein ziemlich stagnierendes Energieverbrauchsniveau. Man kann mit der ersten Ölkrise eine massive Abflachung der Energieverbrauchskurve feststellen. Wir haben aber eine Umschichtung in Richtung Elektrizität und erneuerbare Energien. Die großen Weltmodelle, die den künftigen Weltverbrauch simulieren, wie zum Beispiel das Global Energy Assessment, gehen von einer Abnahme des Primärenergiebedarfs in den Industrieländern aus.“



Mehr Gaskraftwerke in Europa

Bei der Verbrennung von Kohle und Gas zur Stromerzeugung fällt Abwärme an. Nicht so bei den Energiequellen Wind, Wasser und Sonne. Damit kann die verfügbare Nutz-energie stabil bleiben, während der Aufwand an Primärenergie sinkt.

„Anders als fossile Energie müssen Wind, Wasser und Sonnenlicht nicht erst abgebaut werden, was sich positiv in den Betriebskosten niederschlägt. Photovoltaik-Anlagen liefern während ihrer Lebensdauer in etwa das 25-fache der Energie, die ihre Herstellung verursacht. Bei Windenergie liegt dieser Wert sogar zwischen einem Faktor von fünfzig bis hundert, was einer Amortisierungsdauer von knapp einem Monat entspricht“, erklärt Reinhard Haas.

Die künftige Entwicklung schildert er so: „Im Strombereich wird es keine dramatischen Veränderungen geben – der Stromverbrauch wird weiterhin steigen. Wir werden mehr Strom aus erneuerbarer Energie haben, aber das ist limitiert, da ich nicht zu jeder Zeit rund um die Uhr Photovoltaik und Windstrom habe. Im europäischen Raum wird daher längerfristig die Notwendigkeit bestehen, Gaskraftwerke zu betreiben, um Ausfälle bei erneuerbaren Energien kurzfristig zu ersetzen.“



Raus aus der Stadt – und die Folgen

Größere Veränderungen erwartet sich Haas im Bereich der Mobilität. Durch Größe und Gewicht der Autos wurde wesentlich mehr an zusätzlicher Energie verbraucht, als man durch Effizienzsteigerungen einsparen konnte.

„Menschen, die aus der Stadt in die Vororte gezogen sind, geraten durch die steigenden Energiepreise in eine unangenehme Position“, erklärt Hermann Knoflacher, Verkehrsplaner an der TU Wien. Die Zerschlagung kleinräumlicher Strukturen habe zu einem Anwachsen der Wegstrecken und zu einer Mehrnutzung von Autos geführt.

Erschwerend kommt hinzu, dass beim Auto erneuerbare Energieträger so gut wie keine Rolle spielen. Eine zehnprozentige Beimischung von Agrartreibstoffen wäre nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. „Und so illusorisch wie wenig nachhaltig“, erklärt die Politikwissenschafterin Alina Brad: „Um das Beimischungsziel von zehn Prozent zu realisieren, würde man auf dem gegenwärtigen Level des Verbrauchs fossiler Energieträger ein Drittel der landwirtschaftlichen Flächen Europas benötigen.“



Treibstoff aus Pflanzen – Unsinn

Verlagert man die Agrartreibstoffproduktion in die Länder des Südens, verdrängt sie entweder den Nahrungsmittelanbau oder führt zur Rodung von Wäldern oder Trockenlegung von Mooren, was eine enorme Kohlendioxidfreisetzung bewirkt. Beim Anbau kommen Dünge- und Pflanzenschutzmittel zum Einsatz, die wie die Weiterverarbeitung der Pflanzen fossile Energieträger benötigen. Die Länder des Südens tragen mit der Ausbeutung ihrer Ökosysteme noch stärker zur Aufrechterhaltung oder Schaffung eines fossilen Lebensstils in den Industrieländern bei und geraten vermehrt in deren Abhängigkeit.

„Pflanzen, die als Nahrung dienen, für die Produktion von Treibstoff zu benutzen, kann nicht nachhaltig sein. Ich denke, in fünf bis zehn Jahren werden die Agrartreibstoffe, die wir heute kennen, in Europa nicht mehr subventioniert und daher keine Relevanz mehr haben. Der Trend der Biomasseverflüssigung geht in Richtung Algen, Stroh und Abfallstoffe, die sogenannten Biotreibstoffe der zweiten Generation“, sagt Alina Brad.

Nicht viel besser ist es um unsere Chancen bestellt, das gegenwärtige Niveau individueller Mobilität mit Elektrizität zu bestreiten. Elektroautos leiden nicht nur unter ihren finanziellen und ressourcenintensiven Herstellungskosten, sondern vor allem an ihrer zahlenmäßigen Bedeutungslosigkeit: „Wir hatten letztes Jahr ungefähr 350.000 Fahrzeugneuzulassungen, in etwa 600 davon waren Elektroautos. Bis 2020 werden wir vielleicht ein Prozent der Neuzulassungen erreichen“, sagt Reinhard Haas.



Strukturwandel beim Verkehr

Als gangbaren Weg, den Energieverbrauch im Bereich Mobilität zu reduzieren, beschreiben Reinhard Haas und Hermann Knoflacher die innerstädtische Verringerung von Parkplätzen und den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel. Zentrales Moment dabei sind aber die Spritpreise. Dass diese stetig steigen werden, gilt den beiden als unausweichlich. Dass hohe Treibstoffpreise ein wirksames Mittel sind, um den Individualverkehr einzudämmen, haben die beiden Ölpreiskrisen bewiesen.

Reinhard Haas hält dabei folgendes Szenario für sehr wahrscheinlich: „Im Verkehrsbereich wird es in dem Moment einen Strukturwandel geben, da Diesel und Benzin so teuer sind, dass es weh tut. Das heißt nicht einmal, dass sich die Effekte der Globalisierung so besonders stark abschwächen werden, sondern einfach nur, dass nicht notwendiger Transport vermieden wird.“ Die Frage ist, ob man diese Preissteigerung aktiv und politisch herbeiführt oder passiv vom Markt diktieren lässt.



Energiesparen im Wohnbereich

Im Bereich des Wohnens und Heizens stagniert der Energiebedarf trotz steigender Wohnflächen pro Kopf. Es gibt aber auch hier noch viel brachliegendes Einsparungspotenzial, etwa durch Wärmedämmung und energieeffiziente Baumaterialien. Anna Heringer ist Architektin an der TU Wien und beschäftigt sich mit Lehm. Ungebrannt weist er eine hervorragende Energiebilanz auf und ist praktisch endlos recyclingfähig – zum Vergleich: Stahlbeton ist nur mit hohem Qualitätsverlust recyclingfähig und in seiner Herstellung äußert energieintensiv.

Bei ihrer Arbeit hält sie sich an folgende Formel: „Lokale Ressourcen, also Wissen, Materialen und Handwerker so gut wie möglich in Verbindung mit modernen technischen Errungenschaften nutzen. Ich versuche immer, auf eine gute Balance von Low- und High-Tech zu achten. Das Ganze muss natürlich durch einen guten Entwurf veredelt werden, um so für Akzeptanz bei den Menschen zu sorgen.“



Lehmhäuser mit Solaranlagen

Dieses Konzept verfolgt sie dabei nicht nur hierzulande: In Bangladesch hat sie Lehmhäuser mit Solaranlagen ausgestattet. Das ist günstiger, als ein Stromnetz anzulegen. Auch Marina Fischer-Kowalski berichtet davon, dass erneuerbare Energien in ärmeren Gebieten, wie in indischen Bergdörfern nahe Nepal, auf hohe Akzeptanz stoßen. Dort bieten sie nicht nur eine vergleichsweise stabile, dezentrale Energieversorgung, sondern auch Berufsmöglichkeiten: „Hätten die Kinder eine Ausbildung mit Zukunft, würden viele indische Frauen mit Freude weniger Kinder bekommen. Die Familien könnten es sich ja nur dann leisten, Kinder in die Schule zu schicken, wenn sie weniger Kinder bekommen. Diese Verlangsamung des demografischen Wachstums ist natürlich für die Nachhaltigkeitsfrage essenziell.“



Wir sind komplett Banana

Hierzulande scheitern Projekte nicht nur an finanziellen oder politischen Barrieren, sondern auch am Widerstand der Anrainer, wie Reinhard Haas ausführt: „Build Absolutely Nothing Anywhere Near Anybody – BANANA. Es gibt massiven Widerstand gegen Trassen für Leitungen, um die Netze fit für erneuerbare Energien zu machen, aber auch der Widerstand gegen Windkraftanlagen nimmt zu.“

Kein gutes Zeichen, denn die Energiewende im gegenwärtigen Tempo wird nicht ausreichen, um den Klimawandel zu bremsen. „Diese Prozesse geschehen, aber nicht in einem Tempo, das es erlauben würde, unser Klima zu stabilisieren. Das bedeutet, dass wir, abgesehen von erheblichen Knappheitsproblemen, auch vermehrt mit Katas-trophen konfrontiert sein werden“, fasst Marina Fischer-Kowalski die gegenwärtige Entwicklung zusammen.



Wir müssen unser Leben ändern

Die Begrenzung der Klimaerwärmung auf unter zwei Grad, was laut dem internationalen Klimabeirat IPCC notwendig ist, um Katastrophen zu vermeiden, kann nur gelingen, wenn der Verbrauch der Industrieländer sinkt. Jener der sogenannten Emerging Economies steigt jedoch noch drastisch an. Dort beginnen sich jene Konsummuster auszubreiten, die hier allmählich abklingen: motorisierter Individualverkehr, massive Bautätigkeit und hoher Fleischkonsum.

Steigender Verbrauch bedeutet aber auch steigende Nachfrage nach fossilen Energieträgern und vermehrte Konkurrenz im Zugang zu diesen. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass dies bewaffnete Konflikte nicht ausschließt.

Für Alina Brad hat die Diskussion um die Energiewende daher ein großes Defizit: „Man geht immer davon aus, dass wir mehr Energie brauchen und daher mehr Energie heranschaffen müssen. Die Veränderung des Lebensstils, um weniger Energie zu verbrauchen, wird dagegen kaum debattiert.“ Eine Debatte, die ohne Diskussion des Wachstumsimperativs nicht zu haben sein wird. Ob sich Politik oder Wirtschaft daran wagen?


Alina Brad, Politikwissenschafterin und ÖAW DOC-team- Stipendiatin: „Es ist doch skandalös, wo es doch weltweit hungernde Menschen gibt, Nahrungsmittel zu Treibstoffen zu verarbeiten.”

Marina Fischer-Kowalski, Sozialökologin, IFF Wien: „Ich glaube, eine Energiewende hat die Chance, zu mehr Dezentralität, sozialer Gerechtigkeit und Demokratie beizutragen, aber ob diese Chance realisiert wird, hängt von einer Menge Umstände ab.“

Reinhard Haas, Energieökonom, TU Wien: „Energetisch leben wir im Moment einfach über unseren Verhältnissen. Vor allem auch deshalb, weil Energie billig ist.“

Anna Heringer, Architektin, TU Wien: „Der Trend geht nach wie vor dazu, Prozesse zu automatisieren und menschliche Arbeitskraft zu marginalisieren, statt ihr einen höheren Stellenwert zu geben.“


Erschienen in Falter Heureka - Ausgabe: Energiewende - oder was? (4/12)


Montag, 15. Oktober 2012

Sceance Busters

Zum fünfjährigen Jubiläum kehren die Science Busters mit neuem Buch und neuer Show zurück in den Rabenhof. Im Interview erzählen die beiden Physiker Werner Gruber und Heinz Oberhummer und ihre „Kupplung zur Wirklichkeit“, der Kabarettist Martin Puntigam von den letzten fünf Jahren im Kampf gegen Esoterik und Irrglauben.

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BILD: Ingo Pertramer

Im Zeitraum zwischen 2001 und 2011 stieg die Anzahl der Studienanfänger in den Natur­wissen­schaften um 9%, die der Studienanfängerinnen um 13%. Damit stieg auch der Anteil der Frauen auf 44%. Lässt sich das auf das mittlerweile 5-jährige Wirken der "schärfsten Science Boy-Group der Milchstraße" zurückführen? 
Puntigam: Ja. Und das ist natürlich ausschließlich unser Verdienst. Das muss man schon sagen. Aber das kann man nur als Zwischenresultat nehmen. Wir gehen schon davon aus, dass das alles noch wesentlich weiter steigen wird.   

Oberhummer: Also das freut mich sehr, das zu hören, denn ich habe jahrelang, also jahrzehntelang versucht den Anteil der Studentinnen an der TU Wien zu erhöhen.   

Puntigam: Und kaum ist er emeritiert, schon steigt der Anteil. 

Oberhummer: Ja, weil ich jetzt endlich Zeit habe, Naturwissenschaften auf populäre Art und Weise den Schülerinnen und Schülern näher zu bringen. Es freut mich also sehr, dass der Anteil gestiegen ist. Bei uns es war es ja so, dass die Studentinnen noch wirklich ein schönes Leben hatten – die waren ein seltenes Ereignis auf der TU und sind nach Strich und Faden von den Studenten verwöhnt worden. Da haben die Studenten den Kaffee gekocht.  

Puntigam: Das ist die Sicht der Dinge der Studenten. Die Studentinnen haben sich wahrscheinlich bedrängt und eingeengt gefühlt. Hat aber auch damit zu tun, dass sobald eine Frau auf der TU aufgetaucht ist, zwanzig Physikstudenten auf sie zugesprungen sind, um sie zu bedienen. Natürlich bleiben die Frauen da weg.   

Oberhummer: Da muss man aber jetzt schon sagen, die Studentinnen die ich hatte, waren wirklich sehr gut. Die hatten in kürzester Zeit das Studium absolviert … 
Puntigam: Damit sie wegkommen.   

Oberhummer: ... und haben dann auch Karriere gemacht.  

Was hat sich in den letzten fünf Jahren Science Busters verändert? 
Gruber: Um mich auch gleich einzubringen: der Kontostand.  

Herr Gruber, Sie haben ja selber mal gesagt, bei den Science Busters geht's vor allem um Geld und schnellen Sex. Ist das noch aufrecht? 
Gruber: Naja, natürlich wird man älter und sagt sich, es geht nicht nur um schnellen, sondern auch um guten Sex. Und dann kommt natürlich auch irgendwann mal die Moral und man stellt fest: ok, jetzt hab ich mich ausgetobt. Nein, ich glaub in den letzten fünf Jahren hat sich schon sehr viel verändert: Dramaturgie, Webauftritt, usw. Aber die Main-Message ist unverändert: Physik ist geil. Das ist forever.   

Oberhummer: Für mich hat sich sehr viel geändert. Ich war ja früher Universitätslehrer und das jetzt ist eine andere Welt für mich. Was natürlich total schön ist, dass man in der Pension nochmal was ganz anderes machen kann. Das war natürlich auch eine Umstellung, auf der Uni hab ich auch Vorlesungen gehalten, aber im Endeffekt war es gar nicht so wichtig wie gut ich das mache, weil die Studenten ja etwas von mir wollten. Nämlich ein Prüfungszeugnis. Jetzt im Theater ist es so, dass die Leute Eintritt bezahlt haben und auch wiederkommen sollen. Das ist eine ganz andere Welt. Das ist irgendwie doch intensiver auch anstrengender als weil man den Zuhörerinnen und Zuhörern doch etwas bieten muss.   

Gruber: Da muss ich gleich ein bisschen widersprechen. Tatsache ist, dass gerade die Universitäten eine extrem wichtige Arbeit leisten: zukünftige Generationen gut auszubilden. Da haben wir leider massive Mängel und Schwächen. So betrachtet, seh ich jetzt nicht den großen Unterschied zwischen Science Busters und universitären Vorlesungen. Denn auch bei universitären Vorlesungen muss ich mich bemühen, zumindest, wenn ich redlich und ehrlich mein Geld verdienen will, das bestmöglich vorzubereiten. 

Oberhummer: Das Problem ist aber auch, so wie Werner schon gesagt hat, dass für eine Universität die Forschung viel wichtiger ist als die Lehre. Also man wird Dozent oder Professor nur dann, wenn man gute Forschung betreibt. Das ist natürlich bei den Science Busters nicht der Fall. Da ist es das Hauptanliegen, Naturwissenschaften interessant und spannend zu bringen. 

Puntigam: Also ich bin da nicht so eingestiegen der Welt Physik beizubringen, aber wenn ich infiziert worden bin, durch ein gewisses Anliegen oder eine Art Botschaft, dann ist es mitzuteilen, was Wissenschaft eigentlich ist. Denn wenn man das einmal akzeptiert oder begriffen hat, was das ist dann tut man sich ein bisschen schwerer sich jeden Schas einreden zu lassen. 

Der Kampf gegen Esoterik und Pseudowissenschaften ist als noch immer ein Hauptan­liegen. Wie kam es dazu?
Puntigam: Also das mit Esoterik ist einfach eher so passiert, weil dieses Elend nicht und nicht verschwindet. Als vor 20, 30 Jahren New Age das erste Mal nach Europa gekommen ist, hab ich mir als junger Mensch gedacht: Das ist so doof, das verschwindet von selber wieder. Was aber ein grundlegender Irrtum war, denn das ist mittlerweile ein ganz bedeutender Wirtschaftszweig. In Deutschland ist es ja noch schlimmer als in Österreich. Da sitzen Menschen, die diesen Humbug glauben, in gesetzgebenden Gremien. Ich hab den Eindruck, das wird immer mehr oder immer stärker. Ich bin nicht der einzige im Freundeskreis der erzählt, er habe wiederum Bekannte, die eigentlich alle Tassen im Schrank haben, aber Homöopathie toll finden. Da kriegen wir auch immer wieder Fragen und wir merken das auch im Publikum, dass die Menschen da unsicher sind.  

Gruber: Ich glaub Martin, du hast ja da von Heinz und mir auch Einiges über Wissenschaft gelernt, also darüber wie Wissenschaft funktioniert. Also dass als Erklärung nicht reicht, dass es wirkt, weil es da ist. Es muss ja auch eine Theorie dazu geben. Das versuchen wir auch der Bevölkerung näher zu bringen: Schaut's her, es muss ein Experiment geben. Wir verlangen zum Beispiel bei der Homöopathie einfach nur einen Wirknachweis. Und nur weil bei einer Person einmal etwas funktioniert hat, heißt das nicht dass das bei anderen Personen oder Erkrankungen auch funktioniert. 

Puntigam: Also das was Werner Gruber gesagt hat, war mir auch lange nicht bewusst, erlebe ich aber auch immer wieder wenn wir wo hinkommen. Nämlich, dass Naturgesetze keine Meinung sind, also das Wissenschaft keine Neigungsgruppe, sondern ein Methode ist, das ist weitgehend unbekannt. Natürlich sind Wissenschafterinnen und Wissenschafter auch Menschen und agieren im Rahmen ihrer Prägungen und ihres sozialen Umfeldes. Aber trotzdem gibt es Parameter, die man nachprüfen kann, und nach denen die arbeiten müssen, und die in New York, London, Kalkutta und in Wien genau gleich sind, damit die Leute zusammenarbeiten können. 

Oberhummer: Eigentlich wäre es die Aufgabe der Wissenschaften, also der Universitäten, Esoterik und Pseudowissenschaften zu widerlegen, die machen aber mit wenigen persönlichen Ausnahmen einfach nichts. Insofern seh ich es schon auch als Aufgabe der Science Busters, das zu übernehmen und aufklärerisch zu wirken, um in der breiten Bevölkerung zumindest einen gewissen Widerstand gegen diesen esoterischen Wahnsinn zu verankern. Warum die Universitäten oder die ÖAW nichts dagegen machen, liegt wohl daran, dass es eben keine Wissenschaft ist und sie sich daher auch nicht damit beschäftigen. Aber sie vergessen, dass sich ein Großteil der Leute damit beschäftigt und auch aufgeklärt werden will. 

Puntigam: Es hat auch ganz handfeste Auswirkungen. Es kommt der 21. Dezember, also der Weltuntergang mit Ansage, allein wo man sich denkt, ich bin 43 Jahre – wie viele Weltuntergänge da schon hätten stattfinden sollen. Seit ein paar Jahren haben wir ja eine Weltwirtschaftskrise. Die Leute sind an sich verunsichert, und wenn man dann dazu neigt sich gerne etwas zu fürchten, dann findet das natürlich einen fruchtbaren Boden vor. Aber der Weltuntergang wird nicht kommen, weil irgendein phantasierter Kalender aus ist. Abgesehen davon, dass es schon helfen würde zu wissen, dass Kalender nicht aus sein können, sondern per Definition nur Zeit einteilen. Das ist ungefähr der Impetus den wir haben, dass sich die Menschen eh gern fürchten können, aber nicht vor Dingen, vor denen man sich nicht fürchten muss. Aber da fürchten sich wirklich Menschen: Erwachsene, Kinder, Jugendliche. Die haben tatsächlich Angst davor und reagieren dann irrational.  

Gruber: Also wir haben mit einer bekannten Psychologin im Innenministerium von der Sektenstelle geredet. Zu der kommen im Moment jeden Tag fünf bis zehn Personen mit Angst. Also nicht dass die sagen, ich hab da was gehört, da soll was Gröberes auf uns zu kommen, sondern die tauchen dort bibbernd und zitternd auf.  Da sollt man sich doch mit unserem Schulsystem was überlegen oder zumindest fragen, welches Weltbild denn zurzeit in Österreichs Schulen vermittelt wird. 

Arbeiten sie, wie im Buch angesprochen auch an Methoden die eigene Unsterblichkeit herbeizuführen? Der Kampf gegen Irrglauben und Esoterik wird ja wohl eine normale Lebensspanne überschreiten. 
Gruber: Das haben wir schon erreicht, es gibt Bücher von uns, die liegen in der Nationalbibliothek und solange es die Nationalbibliothek gibt solange sind wir verewigt. Wir haben zu dritt den Buchliebling gewonnen, solange es Wikipedia gibt, solange sind wir dabei. Unser Ziel ist erreicht. Der Kollege Oberhummer hat viel Forschung betrieben, manches davon ist glaub ich auch brauchbar, darauf können andere Kollegen aufbauen. Ich hab einmal ein Kriterium geschaffen, das so genannte Gruber-Kriterium. Das ist auch in der Wissenschaft eingängig. Ob jetzt gewisse Witze von den Shows überdauern ...  

Puntigam: Das ist nicht mein Ziel. Ich hoff einfach, dass ich am längsten leb von uns dreien und nach dem Ableben der beiden alle Science Busters Verwertungsrechte auf mich übergehen. Also ich hab dann einen Lebensabend in Saus und Braus und damit bin ich dann eigentlich auch zufrieden. Ich hab also keinerlei Jenseitssehnsucht in mir. Und natürlich ist es unangenehm zu wissen, dass man alt wird und sterben muss; das ist klarerweise eine Zumutung seit vielen tausend Jahren.   

Gruber: Aber es ist wenigstens sozial gerecht.  

Puntigam: Das zum einen und zum anderen, wenn's eine Zeit lang dahingeht, dann kann man mit dem zufrieden sein, was war und muss sich nicht damit sehnen in irgendwelchen zeit- und raumlosen Gegenden irgendwelche Sachen zu machen, oder immer wieder kommen zu müssen, bis man erlöst ist. Also da ist mir lieber es ist vorbei. 

Bis dahin ist aber sich noch etwas Zeit und jetzt sind sie ja bald wieder mit neuen Programm und dem Buch „Gedankenlesen durch Schneckenstreicheln“ im Rabenhof zu sehen – worum geht’s diesmal?
Puntigam: Beim Schneckenstreicheln schauen wir, wie wir auf einen Gedanken kommen, dann kann man begreifen: wie geht lernen. Wir locken damit natürlich die Menschen an. Es gibt auch Bestellungen von Verlagen, die sich hauptsächlich mit Pendeln, Schwingungen und Energieströmen beschäftigen. Die haben das Buch bestellt, weil darin eben auch Gedankenlesen vorkommt. Das war auch das Kalkül. Aber in Wirklichkeit machen wir es wie beim letzten Buch. Wir locken die Menschen an und dann sperren wir die Tür zu und dann gibt's Physik. 

Wie kommen Sie eigentlich zu ihren Themen? 
Gruber: Ja, das würde mich auch interessieren.  

Oberhummer: Die Science Busters haben sich einen gewissen Ruf, eine Reputation erworben, ganz einfach Fragen aus dem Alltag zu beantworten, die man nirgends findet, die in keinem Buch stehen – auch nicht im Internet. 

Puntigam: Da bekommen wir tatsächlich viele Zuschriften – wenn Menschen zusammen­sitzen, diskutieren und nicht weiterkommen, dann bekommen wir ein Email.  

Gruber: Wir bekommen aber auch Emails, wo man sagen muss: Freunde, da muss euch echt fad gewesen sein.  

Puntigam: Ja, aber das Vertrauen ist groß und ich leite das gerne weiter.  

Gruber: Ja, weil wir eh nichts anderes zu tun haben.  

Oberhummer: Und solche einfachen Fragen sind dann oft schwer zu beantworten.  

Gruber: Übrigens die aktuelle Frage mit der Fliege nehme ich.  

Oberhummer: Oh nein, die nehm ich. Nein, passt schon.  

Gruber: Aber du weißt eh die Antwort?  

Oberhummer: Die Antwort ist: gleich schwer. Aber sag die Frage vielleicht?    

Gruber: In einem Jumbojet gibt's eine kleine Fliege. Der Flieger hat mit der Fliege ein gewisses Gewicht. Dann beginnt die Fliege zu fliegen. Wird der Jumbojet leichter oder bleibt das Gewicht gleich? Die Antwort ist einfach: es bleibt gleich, weil die Fliege ja die Luft nach unten umlenkt und das entspricht genau ... obwohl streng genommen müsste es allerdings kurz etwas schwerer werden, weil sie ja abhebt.  

Puntigam: Dann bitte als Zusatzaufgabe gleich ausrechnen: Wie viele Fliegen müssten gleichzeitig in einem Jumbojet starten, damit es messbar zu einem Problem kommt.  

Und zu den Zuschriften kommen dann auch noch Ihre Spezialgebiete? 
Puntigam: Ja, so ungefähr arbeiten wir. Es gibt die Spezialgebiete, damit haben wir natürlich auch begonnen. Wir haben uns ja am Anfang finden und kennen lernen müssen. Und dann interessiert uns ja grundsätzlich einmal alles. Wir beschäftigen uns selbst mit Esoterik und Religion, obwohl es dort wirklich nicht viel zu erforschen gibt. Aber rundherum gibt es da viel zu sagen. Dann gibt es Themen, die sich einfach dadurch herauskristallisieren, weil man am Leben ist und alle Sinnesorgane verwendet und merkt, dass sich zunehmend mehr Menschen für die Tiefsee oder für Hirnforschung oder aktuell die Diagnose Burnout interessiert.  

Gruber: Wir sitzen zusammen und erzählen Martin was uns gerade interessiert. Martin liest Zeitungen und sammelt einzelne Sachen und sagt dann: So, jetzt hab ich 16 Punkte. Wir sagen dann was uns gefällt und wer welchen Punkt übernimmt. Manche Punkte sind auch fad und interessieren uns nicht, das wird wieder weggestrichen. Heinz und ich arbeiten dann die übrigen Punkte aus. 

Puntigam: Und wenn es in der Erklärung kompliziert ist, dann müssen wir halt nachher immer etwas Folkloristischeres machen. Dann brennt meistens etwas ab oder macht Lärm auf der Bühne, damit sich auch wieder etwas Entspannen kann.   

Gruber: Oder der Kollege Oberhummer singt ein nettes Gstanzl.  

Das klingt jetzt alles sehr konfliktfrei und harmonisch – wird es auch mal ohne Experimente laut?
Gruber: Es gibt ja schon Theorien, wo man sagt, das könnte man so oder so interpretieren. Da ist es dann schon so, dass der Kollege Oberhummer und ich in der Garderobe in den Infight gehen, um das zu klären – da kann es auch laut werden
Oberhummer: Das liegt auch daran, dass Werner Experimentalphysiker ist und ich theoretischer Physiker bin.   

Gruber: Und natürlich: Uni gegen TU. Also da gibt es auch echte Spannungen. Wenn da jemand zuhört … aber ich glaub das kann Martin besser schildern.  

Puntigam: Ich hab mir mittlerweile sagen lassen, dass es nicht immer so war, war aber am Anfang sehr davon beeindruckt, dass man sich derartig streiten kann ohne sich langfristig zu zerkrachen. Das kenn ich aus meinem Genre kaum. Da sind die Eitelkeiten so oberflächlich, dass wenn man jemanden sagt, er hat einen Unsinn gemacht, dann ist der angerührt fürs Leben. Aber die beiden Herren, diskutieren das tatsächlich nahezu bis zur Handgreiflichkeit aus. Und dann ist aber wieder Ruhe. 

Gruber: Es geht um die Wahrheit und das verbindet uns. Wobei Wahrheit jetzt natürlich ein schwammiger Begriff ist. Aber es geht darum sagen zu können, damit kann der Heinz leben und damit kann ich leben.

Die Show endet ja immer mit dem Physiker-Witz. Haben Physiker die besseren Witze oder einfach nur mehr als andere Wissenschaftsdisziplinen? Und werden Sie in dieses Witze erzählen auch integriert, Herr Puntigam? 
Puntigam: Es ist ja so, dass ich versuche sie zu verstehen und formal den Mechanismus begreife ich dann oft – wo die Absonderlichkeit ist und wo die Komik entstehen soll. Aber dadurch, dass ich mathematisch so schwach auf der Brust bin, mangelt es mir formal natürlich vollkommen an den Grundlagen da irgendeine Heiterkeit zu empfinden.  

Gruber: Wie 99% des Publikums, muss man sagen.  

Puntigam: Aber ich bin Zeitzeuge davon gewesen, dass einer dem anderen einen Witz erzählt und der andere muss lachen. Diese Form der Heiterkeit existiert tatsächlich.  

Gruber: Wir haben aber im Publikum immer ein zwei Leute, die das verstehen.  

Oberhummer: Von dreihundert.  

Puntigam: Es ist ein bisschen so, wie wenn man beginnt Englisch besser zu verstehen, dann findet man englische Fernsehserien plötzlich lustiger als sie tatsächlich sind, weil man sich so wahnsinnig darüber freut, dass man den Witz verstanden hat. So ungefähr kann man sich das vorstellen. 

Herr Prof. Oberhummer und Herr Prof. Gruber sind auf der Bühne ja immer sehr adrett gekleidet. 
Gruber: Danke.  

Herr Puntigam, woher nehmen Sie, ihre modische Inspiration? Und warum gerade rosa und nicht etwa türkis oder petrol? 
Puntigam: Ich hab im Jahr 2004 begonnen rosa zu tragen. Im Sommer 2012 war rosa weltweit die Modefarbe. Purpur war ja immer die Farbe der Kaiser und Kardinäle, bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Erst da hat es dann auch gewechselt, dass blau für die Buben und rosa für Mädchen bestimmt war. Zuvor war das Madonnenblau für die Mädchen bestimmt und rosa, als das kleine Rot für die Knaben. Außerdem ist rosa auch die Farbe des Gesamtführenden des Giro d'Italia. Dieses Pink ist also letztlich wirklich die Farbe der Sieger und die Art und Weise, wie ich das trage, hat natürlich auch etwas Avantgardistisches.   

Also Sie machen mit diesem Trikot auch ihren Leadership-Anspruch auf der Bühne deutlich? 
Puntigam: Genau. Es ist sowieso immer nur eine Frage der Zeit bis die Leute nachrücken. Man braucht da nicht allzu lang warten. Rosa findet man auf der Straße mittlerweile überall. Auch den Oberlippenbart trag ich seit 2006 – auch der hat sich mittlerweile tadellos durchgesetzt. Und auch bei den nach hinten gekämmten Hannes-Kartnig-Haaren ist es nur eine Frage der Zeit bis sich diese durchsetzen. Ich werd aber auch sehr oft nach der Show auf die Nippel angesprochen. Auch das ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die durchsetzen.   

Gruber: Aber die hast du ja sogar standardmäßig in einem ganz normalem Geschäft gekauft. 

Puntigam: Ja, aber das ist wieder ein bisschen verloren gegangen. Seinerzeit hab ich die ganz normal bei BIPA gekauft. Mittlerweile muss man da schon einschlägig einkaufen gehen. Mein Ziel ist es, dass wenn man in die Trafik geht und eine Zeitung kauft, dann sollen da an der Budel auch Nippel stehen, damit sich die auch einfach gleich mitnehmen kann.  

Werden die eventuell auch in den Merchandise aufgenommen? 
Puntigam: Diese Pläne gibt es auch. Eventuell, dass man das rosa Trikot gleich inklusive Nippel anbietet. Ich hab gelesen, dass sich junge Menschen jetzt mehr leisten können. Das ist meine Hoffnung, denn momentan gibt es eine Diskrepanz. Die Menschen, die sich das Leiberl leisten könnten – es ist hochwertige Funktionswäsche in Handarbeit hergestellt, also das kostet schon ein bisschen was – die also das nötige Einkommen haben, sind noch nicht bereit es im Alltag zu tragen. Dagegen haben die Menschen, die jung genug sind sich das noch zu trauen, oft nicht das Einkommen um sich das zu leisten. Jetzt versuche ich den Preis eh bis zu einer gewissen Grenze runterzutreiben, so dass es bei Weitem kein Geschäft mehr ist. Aber trotzdem ist der Preis der Funktionswäsche hoch – an der Herstellung sind ja natürlich auch sehr viele ForscherInnen beteiligt. Ich hoffe, dass sich das bald trifft. Dann ist es nur mehr eine Frage der Zeit bis das Publikum rosa ist und dann kann ich einen Schritt weiter gehen.  

Also die Science Busters sind ein wissenschaftlicher, künstlerischer und nicht zuletzt auch ästhetischer Gesamtentwurf? 
Puntigam: Die Menschen wollen gern viele Sachen wissen, aber sie schauen sich auch gerne schöne Sachen an. Das Bedienen wir natürlich beides.  

Gruber: Deshalb sind Heinz und ich auch so gut gekleidet.   

Oberhummer: Es kommt natürlich auch auf die Verpackung an, besonders wenn wir Wissenschaft verkaufen wollen. Obwohl das natürlich auch so viele Leute interessiert. Es ist ein Märchen, dass Naturwissenschaften niemanden interessieren. Aber sie sind scheinbar noch geschädigt von der Schule oder sonstigen Vorträgen und glauben, dass das unverständlich und uninteressant ist. 
Puntigam: Aber wenn man so attraktiv ist, wie wir, dann ist das anders. Das weiß man ja aus Untersuchungen, dass schöne Menschen automatisch Erfolg haben, und das machen wir uns zunutze.



Erschienen auf TheGap.at.