Bisphenol A sorgt für biegsames Plastik, aber wahrscheinlich auch für Entwicklungsstörungen und chronische Krankheiten.
Eine Studie der U.S. Food and Drug Administration, die Lebensmittelüberwachungs-
und Arzneimittelzulassungsbehörde der USA, sorgt für Aufsehen. Laut
dieser hat Bisphenol A (BPA) in niedrigen Dosen keine Auswirkungen auf
die Gesundheit schwangerer und neugeborener Ratten. Ein Ergebnis, das
von vielen Experten stark angezweifelt wird. Was die Studie aber
unbeabsichtigt auch zeigt: BPA ist praktisch überall und unvermeidbar.
In den Tieren der Kontrollgruppe, denen die Substanz nicht verabreicht
wurde, fanden sich vergleichbar hohe Mengen wie in jenen der
Versuchsgruppe. Wie es in die Tiere der Kontrollgruppe gelangte, ist
nach wie vor nicht geklärt.
Bisphenol A steht im Verdacht, die
Entwicklung von Adipositas, Diabetes, Asthma, kardiovaskuläre
Erkrankungen und die Bildung von Prostata- und Uteruskarzinomen zu
begünstigen. Des Weiteren gilt es als Faktor bei verfrüht einsetzender
Pubertät und Störungen der Fertilität und der Gedächtnisleistung. In den
letzten zwanzig Jahren hat die Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet
rasant zugenommen und Studien mit teils konträren Ergebnissen
hervorgebracht.
Für Klaus Rhomberg, Umweltmediziner in
Innsbruck, erklären sich diese stark abweichenden Studienergebnisse
nicht nur aufgrund rein wissenschaftlicher Kriterien: „Noch nie hat eine
von der Industrie finanzierte Studie die Gefahren von BPA bestätigt.
Umgekehrt gibt es keine Studie unabhängiger Forscher, die BPA als
unbedenklich einstuft.“
Eine Einschätzung, die auch Frederick vom
Saal von der University of Missouri in Columbia teilt. Er wertete 115
Studien aus. Keine einzige von der Industrie finanzierte Studie brachte
schädliche Ergebnisse zutage. Dagegen berichteten neun von zehn Studien
von Universitäts- oder Regierungsforschern von schadhaften
Veränderungen. Allein in den USA steht hinter der Produktion von BPA
eine Sechs-Milliarden-Dollar-Industrie von nur fünf Unternehmen.
Fast jeder trägt es in sich
Um die vorletzte
Jahrhundertwende in Marburg erstmalig hergestellt, sollte es dreißig
Jahre dauern, bis BPA wieder Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf der Suche
nach einem Ersatzstoff für Östrogen wurde es von britischen Biochemikern
in den Dreißigerjahren wiederentdeckt, aber aufgrund seiner schwachen
Wirkung wieder eingemottet.
Ein halbes Jahrhundert später, als Plastik
schon längst seinen Siegeszug angetreten hat, taucht es wieder in
größeren Mengen auf. Diesmal als Bestandteil von Polykarbonaten. In den
Achtzigerjahren, als der Verbrauch von Plastik erstmals den von Stahl
überstieg, begann BPA dramatisch an Bedeutung zu gewinnen. Mittlerweile
werden jährlich rund vier Millionen Tonnen produziert, was BPA zu einer
der häufigsten Chemikalien macht.
BPA wirkt in Kunststoffen wie ein
Schmiermittel. Es erlaubt langen Molekülketten, aneinander
vorbeizugleiten. So werden harte und spröde Polykarbonate weich und
biegsam. Es findet sich in Kunstoffbehältern und -flaschen sowie
medizinischen Geräten. Es kommt aber auch in Epoxidharzen vor. Diese
dienen als Beschichtung bei Konserven- und Getränkedosen, Trink- und
Abwasserbehältern sowie -rohren. Im Körper wirkt BPA wie das Hormon
Östrogen. Auch Phthalate weisen diese Wirkung auf. Sie finden vor allem
in Polyvinylchlorid (PVC) Anwendung, das bei Lebensmittelverpackungen,
aber auch in der Medizin weit verbreitet ist.
Kunststoffe sind, so unverwüstlich sie uns
erscheinen mögen, recht fragile Gebilde. Gerade unter Einwirkung von
Sonne, hohen Temperaturen oder mechanischen Belastungen verändern sie
sich. Sie können vergilben, schmelzen, brechen oder zerkratzen und
setzen für uns unsichtbar Inhaltsstoffe frei. Gerade im Kontakt mit
heißem Wasser löst sich BPA besonders gut aus Plastik. Über in
Kunststoff oder in Konservendosen verpackte Lebensmittel gelangt BPA in
den menschlichen Körper. Im Trinkwasser kommt es so gut wie nicht vor.
Die meisten Menschen tragen Spuren von BPA in sich. Das National Health
and Nutrition Examination Survey 2003–2004 ergab, dass 93 Prozent der US-Bevölkerung über sechs Jahren Spuren von BPA im Urin aufweisen.
Selbst in niedrigen Dosen wirksam
BPA ist nicht nur ein Lehrstück
über den Wert unabhängiger Forschung. Es ist eine neuartige
Herausforderung für alle damit befassten Disziplinen und stellt gängige
naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen vermehrt vor Probleme. Die
Ergebnisse von Tierversuchen lassen sich nur bedingt auf Menschen
übertragen, die Versuchsanordnungen selber aus naheliegenden Gründen gar
nicht. Die Aufnahme von BPA oder Phthalaten erfolgt oft unbewusst und
in Kombination mit vielen anderen Umwelteinflüssen. Allein schon in
Kunststoffen finden sich oft Mischungen von BPA und unterschiedlichen
Phthalaten. Die Wechselwirkungen zwischen diesen Substanzen sind
weitgehend unbekannt. All das macht es auch so schwierig, lückenlose
Evidenzketten zu konstruieren, wie etwa zwischen Tabakkonsum und
Lungenkrebs oder kalorienreicher Kost, wenig Bewegung und Übergewicht.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich
hormonaktive Substanzen nicht wie einfache Giftstoffe verhalten. „Bei
hormonaktiven Substanzen lässt sich zwischen Menge und Wirkungen keine
einfache Kurve ableiten“, sagt Johannes Steinwider von der Agentur für
Gesundheit und Ernährungssicherheit. Niedrige verhalten sich oft anders
als hohe Dosen. Neben der Menge ist auch der Zeitpunkt der Aufnahme des
Wirkstoffs wichtig.
„Bei der Entwicklung des Kindes im Mutterleib gibt es Zeitfenster, wo schon geringste Dosen einen großen Einfluss haben. Da reichen wenige Moleküle pro Zelle und man hat schon einen Effekt. Wenn das Fenster nicht offen ist, kann man höher
dosieren, ohne eine Wirkung festzustellen“, erklärt Umweltmediziner
Rhomberg. Gerade Neugeborenen fehlen die Enzyme, um hormonwirksame
Substanzen umzuwandeln und auszuscheiden. Schon kleine Mengen gelangen
so ungehindert in die Blutbahn. Für Steinwider ist daher klar, dass es
Erweiterungen etablierter toxikologischer Konzepte bedarf, um die
Risiken dieser Wirkstoffe abwägen zu können.
Ist ein Verbot kontraproduktiv?
Die Dynamik der Debatte lässt
sich auch anhand der in der EU gültigen Grenzwerte beobachten. Bis 2006
galten zehn Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag als sicher
und unbedenklich. Im Lichte neuer Studien betrachtete die Europäische
Behörde für Lebensmittelsicherheit die Risiken von BPA als bekannt und
kalkulierbar und erhöhte unter massiven Protesten von Forschern und NGOs
aus Umwelt und Konsumentenschutz den gültigen Grenzwert auf 50
Mikrogramm. Infolge einer Neuevaluierung wurde der Grenzwert für BPA zu
Beginn des Jahres auf fünf Mikrogramm gesenkt.
Nun geht man europaweit von einer
Beeinträchtigung der Entwicklung und möglicher Minderung der
Fruchtbarkeit aus. Daher gilt ein Verbot für BPA in Babyfläschchen. In
Österreich sind auch BPA-haltige Schnuller verboten. In Frankreich gilt
ein generelles Verbot von BPA in Lebensmittelverpackungen für
Kindernahrung. Im nächsten Jahr soll das Verbot auf sämtliche
Lebensmittelverpackungen ausgeweitet werden. In der Schweiz nimmt man
dagegen von einem solchen Verbot Abstand. Dieses würde zum Einsatz wenig
erforschter Stoffe führen. „Das würde bedeuten, dass ein gut
charakterisiertes Risiko durch ein deutlich schlechter einschätzbares Risiko ersetzt würde“, folgert das Schweizer Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen.
Auch Rhomberg hält ein Verbot von BPA für
zu kurz gegriffen: „Es macht keinen Sinn, eine Substanz gegen eine
andere zu ersetzen, die bestimmt auch wieder Nebenwirkungen haben wird.
Es braucht einen grundlegenden Wertewandel und ein anderes
Konsumverhalten abseits einer von Plastik dominierten
Wegwerfgesellschaft. Grundsätzlich kann uns nur die Rückkehr zu
Naturstoffen bzw. zu altbekannten Werkstoffen wie Glas, Porzellan oder
Keramik aus dem Dilemma helfen.“
Erschienen in Falter - Heureka: Plastikland. Der achte Erdteil (3/14)