Mittwoch, 21. November 2012

Klimaverlierer in Österreich

Der Klimawandel steht nicht bevor, wir sind bereits mitten drin. Auch in Österreich. Noch halten sich die Auswirkungen des Klimawandels in Österreich in Grenzen. Sie werden ab der Hälfte dieses Jahrhunderts verstärkt spürbar werden. Die Veränderung bei Temperatur und Niederschlag gehen weiter, wir werden uns dem anpassen müssen.

„In Anbetracht von Ereignissen wie ,Sandy‘ entsteht momentan der Eindruck, wir seien die Insel der Seligen. Dem ist nicht so“, warnt Erwin Mayer, Ökonom der Umweltagentur denkstatt, vor den Folgen des Klimawandels in Österreich. Auch wenn uns Katastrophen wie ,Sandy‘ gegenwärtig erspart bleiben, ist der Klimawandel in Österreich wie im gesamten Alpenraum bereits deutlich ausgeprägt“, erklärt Michael Hofstätter, Klimaforscher an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik: „Im Großraum der Alpen haben wir seit der Industriellen Revolution einen Temperaturanstieg von plus 1,6 Grad, während er im globalen Mittel nur bei etwa 0,8 Grad liegt. Zwischen 1860 und 1930 haben sich die Temperaturen nur wenig geändert. Einen deutlichen Temperaturanstieg kann man erst ab Mitte des letzten Jahrhunderts und ganz massiv ab 1980 ausmachen.“



Die Schneefallgrenze ist um 160 Meter gestiegen

Die Drastik dieses Vorgangs wird besonders augenscheinlich, wenn man den Temperaturanstieg in die Höhe der Schneefallgrenze übersetzt. Folgt man Michael Hofstätter, gilt die Formel, dass für ein Grad Erwärmung die Schneefallgrenze um hundert Meter nach oben wandert – in den letzten Jahrzehnten um 160 Meter. Dies hat Auswirkungen auf die Gletscher: Sie befinden sich weiterhin auf dem Rückzug.

Für Erwin Mayer ist ein völlig gletscherfreies Österreich bis zur Jahrhundertwende kein gänzlich unrealistisches Szenario: „Die Alpen waren schon ohne menschliches Zutun gletscherfrei – dieses Mal hätte es aber klare anthropogene Ursachen.“ Ökonomisch betrachtet, betrifft die Temperaturerwärmung vor allem den Wintertourismus: Es steigt die Schneefallgrenze, auch ist mit einer früheren Schneeschmelze zu rechnen, wie Wolfgang Schöner, Klimafolgenforscher an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, erläutert. Das reduziert die Anzahl der möglichen Skipisten sowie die Dauer der Saison. Besonders betroffen sind vor allem Wintersportorte in niedrigen und mittleren Lagen. Mit der Schneefallgrenze steigt auch die des Dauerfrostbodens. Das macht es schwieriger, Gebäude und Infrastruktur in hochgelegenen Regionen zu errichten. Was ehemals als „Zement der Alpen“ bekannt war, ist als Fundament kaum mehr geeignet. Felsen, die nicht mehr durch den Dauerfrost geschützt sind, beginnen zu erodieren und werden instabil. Bereits bestehende Gebäude müssen oft mit großen Mengen Stahlbeton gesichert, einzelne Hütten sogar aufgegeben werden.



Die Zahl der gefährlichen Bergzonen steigt

Durch den Klimawandel sind größere Teile des Gebirgsmassivs von natürlicher Erosion betroffen. Dadurch werden Gesteinsmassen ins Rollen kommen und Felsstürze zunehmen – damit wächst auch die Zahl alpiner Gefährdungszonen. Die Folgen der steigenden Schneefallgrenze werden in der Form von Hochwasser auch noch in voralpinen Regionen spürbar sein. Erwin Mayer macht dafür den „Klospülungseffekt“ verantwortlich: Die winterlichen Niederschläge in Form von Schnee und Eis fielen bislang auf schnee- und eisbedeckte Flächen und wurden dort sofort gebunden. Die Gletscherschmelze und das Abtauen der Schneemassen setzten diesen Niederschlag langsam in unsere Gewässer frei. Das führte zu einer „relativen Glättung der Pegelstände“.

Je geringer die Gletschermasse und je höher die Schneefallgrenze, desto mehr Winterniederschlag fällt – als Regen – bis hin-auf auf 2000 oder 3000 Meter. Und desto schneller fließt das Wasser wieder in die Täler ab, was den Pegelstand der Gewässer binnen weniger Stunden drastisch steigen lässt. Erwin Mayer folgert daher: „Die sinkende Schneebedeckungsdauer führt zu einer Tendenz, dass Überflutungen wie im Kärntner Drautal öfter auftreten werden.“ Auch Wolfgang Schöner hält es für wahrscheinlich, dass weniger Niederschlag in Form von Schnee fallen wird. Darüber hinaus rechnet er mit einer Niederschlagszunahme im Winter.



Wer leidet unter Steinschlag und Hochwasser?

Wen Steinschläge oder Hochwasser treffen, hängt auch davon ab, wo man lebt. In den gefährdeten Lagen findet man vor allem einkommensschwächere Haushalte, was Erwin Mayer auf die niedrigeren Grundstückspreise zurückführt. Dass dort überhaupt gebaut werden durfte, liegt daran, dass Raumplanung und Festlegung von Gefährdungszonen lange Zeit in lokaler Kompetenz lagen. Gemeinden standen so vor einem Dilemma: Gefährdete Gebiete zur Bebauung freigeben, um über die Einwohnerzahl mehr Kommunalsteuer zu generieren, oder auf Wachstum verzichten und Sicherheitsbedenken den Vorzug geben?

Dennoch sieht Mayer die Bemühungen im Hochwasserschutz auf einem guten Weg – hier sei vor allem das Hochwasser von 2002 besonders lehrreich gewesen und hätte zu einem Umdenken geführt: „Man muss den Flüssen zwischen den Gemeinden mehr Platz bieten, damit sie sich ausdehnen können. Die alte Methode – wir kanalisieren von der Quelle bis zum Schwarzen Meer – hat nicht funktioniert, sondern zu erhöhten Geschwindigkeiten und noch stärkeren Hochwässern geführt.“

Als nachhaltig für den Hochwasserschutz bezeichnet er eine striktere Raumordnung. Teilweise wird diese auch Rückbauten fordern müssen, um zu Überflutungsflächen und zu einer Steigerung des Rückhaltevermögens des Bodens zu kommen. Dies lässt sich durch einen höheren Humusanteil und eine geringere Verdichtung schaffen.



Wird Österreich wesentlich trockener werden?

Ein erhöhtes Rückhaltevermögen des Bodens würde sich bei Hochwasser, aber auch in Trockenperioden bezahlt machen. Die steigenden Temperaturen werden, da sind sich Hofstätter und Schöner sicher, die Niederschlagshäufigkeit im Sommer senken. Die beiden Forscher gehen auch davon aus, dass das Niederschlagsvolumen bei einzelnen Ereignissen zunehmen könnte, weisen aber darauf hin, dass hinter dieser Annahme viele Fragezeichen stehen. Weder für unsere Trinkwasserversorgung noch für die Stromerzeugung werden diese Trockenperioden längerfristig problematisch sein.

Dies gilt jedoch nicht für die Landwirtschaft. Vor allem im Osten Österreichs kämpft sie schon jetzt gelegentlich mit Dürreperioden. Doch auch darauf könne man sich einstellen, erklärt Willi Haas: „Zukünftige Wasserknappheit lässt sich durch den Einsatz effizienterer Bewässerungssysteme bewältigen. Das setzt die effektive Verbreitung von Wissen darüber voraus, welche Pflanzen in welchen Phasen wie viel Wasser brauchen.“ Mittelfristig werden die Landwirte wohl nicht umhin kommen, ihre Fruchtfolgen und Pflanzensorten an die sich nun rascher wechselnden Bedingungen anzupassen.

Die hohen Temperaturen führen in der Land- und Forstwirtschaft zu neuartigem und potenziell stärkerem Schädlingsbefall. Unklar ist, wie die steigenden Temperaturen die Qualität der Gewässer beeinflussen und wie sie sich auf die Pegelstände der von der Schifffahrt genutzten Gewässer auswirken werden.



Die Österreicher geraten in Hitzestress

Die steigenden Sommertemperaturen werden zu mehr Hitzestress bei der Bevölkerung führen. Während der Hitzewelle im August 2003 in Frankreich erhöhte sich die Sterblichkeitsrate um 55 Prozent, es kam zu über 14.000 Todesfällen. Besonders betroffen sind ältere Menschen, Kinder und Kranke. „Es gibt natürlich Gebiete, die mikroklimatisch besonders ungünstig sind. Dort gibt es sehr wenig Grünraum, dafür vermehrt Luftstauzonen, es herrscht ein geringer Luftdurchzug. In diesen Stauzonen kann sich warme Luft besonders lange halten. Wenn dort ältere Menschen wohnen, kann es kritisch werden“, führt Willi Haas aus.

Es werden daher vor allem die Städte besonders stark unter den steigenden Temperaturen leiden. Erwin Mayer erklärt das so: „Es gibt einen Hitzeinseleffekt. Beton ist eine riesige Speichermasse, nimmt sehr viel Energie auf und gibt sie erst langsam wieder ab. Das heißt, die Hitzeperioden werden in den Städten noch dramatischer sein als am Land.“ Die Zahl aufeinanderfolgender Tropennächte, also jener Nächte, in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad Celsius fällt, werden infolge mangelnder Abkühlungsperioden zunehmen. Abkühlung lässt sich mit Klimaanlagen erreichen. Damit würde aber unser Energiebedarf steigen. Einsparungen durch kürzere Heizperioden werden durch die Kosten der Klimaanlagen deutlich überkompensiert.



Der Klospülungseffekt in den Städten

Nicht nur aufgrund der CO2-Emissionen ist eine Zukunft mit weniger Autos erstrebenswert: „Je weniger motorisierter Individualverkehr im urbanen Raum, desto mehr Möglichkeiten gibt es, mikroklimatische Verbesserungen herbeizuführen“, erklärt Willi Haas. „Dazu braucht man gestaltbaren Raum, der ohne größere Konflikte zur Verfügung steht. Hier können Synergien von Anpassung und Klimaschutz hergestellt werden.“

Die Idee: Kühlung nicht durch technische Anlagen, sondern durch die Errichtung von Grünflächen anstelle von Straßen oder Stellplätzen. Das brächte natürliche Beschattung ebenso wie Verdunstungskühle, erläutert Erwin Mayer. „Wie wir das von unserer eigenen Haut kennen, ist die Verdunstung von Wasser ein effizientes und billiges Kühlmittel – besser als jede Kühlanlage im Sommer. Wenn wir das Wasser länger in der Stadt halten und damit einen Verdunstungsprozess auslösen, können wir die Stadt massiv kühlen.“

Für die Stadt gilt schon jetzt, was uns in den Alpen vermehrt bevorsteht: der Klospülungseffekt. Durch die Versiegelung der städtischen Oberfläche bleibt der Niederschlag als mögliches Kühlmittel nie lange in der Stadt, sondern wird über Kanäle rasch abgeleitet. Es gelte daher, mehr Biomasse in die Stadt zu bringen, um so Wasser für die Verdunstung speichern zu können. Das kann spektakulär sein wie die vertikalen Gärten des Botanikers und Künstlers Patrick Blanc im Innenhof des Sofitel-Hotels am Donaukanal. In den meisten Fällen aber wird es reichen, mehr Grünflächen zu schaffen und Fassaden und Dächer zu begrünen, um spürbar für Kühlung zu sorgen.



Afrikas Erde den Chinesen und Europäern

Es wächst die Gruppe der Menschen, die dem Klimawandel nicht durch Anpassung, sondern nur mit Absiedlung begegnen kann. Für viele bedeutet dies den Abschied aus ihrer Heimat. Vor allem Gebiete in Afrika sind massiv von Dürre und Bodenerosion betroffen. Dennoch sichern sich chinesische und europäische Unternehmen hier fruchtbares Land für die Produktion von Nahrungsmitteln und Agrartreibstoffen – Flächen, die der Nahrungsmittelproduktion für die lokale Bevölkerung vorenthalten bleiben. Ein Szenario, das an die große irische Hungersnot zwischen 1845 und 1849 erinnert: Missernten, Export von Nahrungsmitteln – und ein folgender Massenexodus.

„Laut Schätzungen des Environmental Change Institute der Universität Oxford gibt es im Moment 50 Millionen durch Umwelt und Klima bedingte Flüchtlinge weltweit. Im Jahr 2050 wird diese Zahl auf rund 200 Millionen steigen. Die sozialen Folgen des Klimawandels lassen sich noch schwer abschätzen, da diese von dessen Ausmaß abhängen werden. Aber nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa wird das Thema Klimaflüchtlinge ganz zentral sein“, sagt Adam Pawloff, Politikwissenschafter an der BOKU Wien. Die größten Verlierer des Klimawandels in Österreich sind also jene, die sich auf den Weg hierher machen.



Österreich versagt bei der Einhaltung der Klimaziele

Für Adam Pawloff stößt das Modell Nationalstaat im Zuge des Klimawandels an seine Grenzen. Das beständige Scheitern internationaler Klimaverhandlungen bestätigt ihn in dieser Sicht: „Da gibt es natürlich aufgrund sehr unterschiedlicher, nationaler Ausgangslagen sehr unterschiedliche Interessen. Bis jetzt hat man es nicht geschafft, zu globalen Entscheidungen zu kommen und effektive Maßnahmen zu setzen.“

Die oberste Direktive der Klimafolgenbearbeitung laute noch immer: so viele Emissionen wie möglich einsparen, um zukünftige Generationen vor noch größeren Folgen des Klimawandels zu bewahren. „CO2 wirkt sehr langfristig. Wenn wir jetzt eine Änderung setzen, dann wirkt sie erst in 50 oder 60 Jahren“, sagt Schöner. „Das erscheint so weit weg, dass es in der wirtschaftlichen und politischen Planung oft nicht berücksichtigt wird und kein Umdenken zu längerfristigen Perspektiven auslöst.“

Erwin Mayer resümiert die heimische Klimaschutzpolitik so: „Wir haben in Österreich ein sehr niedriges Emissionsreduktionsziel und keine Ambitionen, ein höheres zu setzen. Man übernimmt nur das, was man in Brüssel nicht verhindern konnte.“ Auch Willi Haas’ Fazit fällt kritisch aus: „Von seiten der Bundesregierung ist hier nur wenig Interesse zu bemerken, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Österreich ist bei der Einhaltung der Klimaziele alles andere als wegweisend.“

Willi Haas bemängelt auch, dass unser Gesundheitssystem nicht darauf vorbereitet ist, betroffene Menschen über Gefahren zu informieren und bei Bedarf zu unterstützen – etwa im Falle von Hitzewellen. Adam Pawloff regt an, sich um die Errichtung eines Netzwerks von Katastrophenschutzzentren zu bemühen, damit im Ernstfall Einsätze effektiv koordiniert werden können.

Für Erwin Mayer knüpft sich daran auch die Frage nach den Kosten von Klimafolgen. Im Fall von Extremphänomenen wie Hochwasserkatastrophen werden diese in der Regel aus dem allgemeinen Budget über einen Zuschuss aus dem Katastrophenfond finanziert. Alternativ könnte er sich vorstellen, einen Topf zu schaffen, der stärker das Verursacher-Prinzip berücksichtigt: „Das heißt, je mehr CO2 jemand ausstößt, desto mehr müsste er in den Topf einzahlen. Das würde auch einen sozialen Ausgleich schaffen.“

Der Klimawandel stellt jedoch nicht nur die Politik, sondern auch die Wissenschaft vor schwierige Aufgaben. Sie muss neue Klimamodelle entwickeln, die genauere Aussagen über regionale Auswirkungen zulassen. Dieses Wissen kann genutzt werden, um sozial-ökologische Systeme auf ihre Anfälligkeit gegenüber klimatischen Veränderungen zu untersuchen. Willi Haas meint darüber hinaus, dass man in vielen Bereichen schon wüsste, was zu tun sei. Es fehle jedoch der auf Kurzfristigkeit ausgerichteten Politik der Anreiz, dieses Wissen zur Vermeidung langfristiger Nachteile umzusetzen. „Es ist sehr wichtig zu schauen, was die Bedingungen derzeitigen Handelns sind und was sich an diesen ändern müsste, damit Reaktionen auf den Klimawandel entschieden und effektiv ausfallen.“



Willi Haas, Sozialökologe, IFF Wien: „Wenn wir in den nächsten Jahren nicht unsere Handlungsfähigkeit drastisch erhöhen, haben wir in den nächsten zehn Jahren noch kein Problem. Danach werden wir aber zu einer von Klimafolgen getriebenen Gesellschaft mit drastisch reduzierten Handlungsspielräumen.“

Michael Hofstätter, Klimaforscher, ZAMG: „Man müsste das Konsum- und Mobilitätsverhalten ändern. Dazu braucht es den politischen Willen, das der Wirtschaft schmackhaft zu machen.“

Erwin Mayer, denkstatt.at: „Man muss sich auch eine Einigung mit der Versicherungswirtschaft überlegen.“

Adam Pawloff, Politikwissenschafter, BOKU Wien: „Wir sehen zunehmend, dass alle größeren Probleme die Grenzen der Nationalstaaten überschreiten: Klima, Luftverschmutzung, Wassernutzung. Konflikte werden sich erheblich verschärfen.“


Erschienen in Falter Heureka - Ausgabe: Klimaverlierer in Österreich (5/12)



Dienstag, 20. November 2012

When the devil comes knocking

Das kanadische Ausnahmelabel Constellation Records feiert seinen 15. Geburtstag. Rechtzeitig bevor insgesamt 9 Bands des Labels, darunter Silver Mt. Zion, Do Make Say Think und Sandro Perri, an zwei Tagen das Programm des Bluebird-Festivals bestreiten, wollen wir mit einer Rückschau gratulieren.


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BILD: Constellation Records

Montréal wäre – anders als Toronto und abgsehen von „betrunken A&R-Leuten, die für irgendein Festival in die Stadt kommen“ – traditionell immer schon frei von Major Labels gewesen. Dies sei einer der Gründe, so erklärt Don Wilkie, Co-Gründer von Constellation, warum Montréal eine solche Strahlkraft auf viele Künstlerinnen und Künstler ausgeübt hätte. In den frühen 90ern hätte sich die Stadt natürlich auch noch durch die niedrigen Mieten ausgezeichnet. „Das, kombiniert mit der Tatsache, dass es eine gewisse Statik in Montréal gibt – die in anderen kanadischen oder nordamerikanischen Städten so nicht existiert – die viele Menschen hierher zog und nach wie vor hierher zieht ... All diese Faktoren haben eine beträchtliche Zahl an Leuten, darunter viele hochkreative Leute angespült, dass es vielleicht gar keine Frage war, ob alles mit der Zeit eine kritische Masse erreichen und auf viele großartige Arten explodieren würde“, beschreibt Constellations Don Wilkie das Montréal der frühen 90er. Diesem kreativen Reaktor, dessen Brennkammer das Quartier Mile End bildete, fehlten allerdings die Mittel diese Energie auch abzugeben und Output zu generieren: Es mangelte an Spielstätten und Auftrittsmöglichkeiten genauso wie an Labels. 

Montréal - Tote Stadt
Glaubt man dem Text, der einen auf der Startseite der alten Label-Homepage begrüßte, ist es allerdings verwunderlich, dass irgendjemand freiwillig dort seine Zelte aufschlagen wollte: „Montréal ist eine befremdliche, traurige und zerbröckelnde Stadt. Das Gespenst des Québec-Nationalismus und der darauf folgende Abfluss des Kapitals der englischsprachigen Eliten, kombinieren politische und ökonomische Ungewissheiten mit einer gesunden Portion kultureller Unsicherheit. Während sich am Horizont beständig ein Entfremdetsein abzeichnet, trinken und rauchen wir und nehmen fatalistische Haltungen an, leben von der Wohlfahrt, Shit-Jobs, permanent schwindenden Zuschüssen, finden kalten Trost in der zerfallenden städtischen Geographie verlassener Gebäude, den kaputten Straßen, den niedrigen Mieten.“ Aber was Constellation und viele seiner Artists auszeichnet ist ein Selbstverständnis von kollektiv künstlerisch-politischer Praxis, die es der Miserere individualisierter Prekarisierung entgegenzustrecken gelte: „Montréal, wie jede andere Stadt, ist ein Ort um gemeinsam Fluchtrouten zu planen. Die Gründe um hier zu sein, sind unterschiedlich aber das Muster ist dasselbe: ein Mangel an Möglichkeiten und ein Überschuss kultureller Entfremdung schaffen ihre eigen fragile Community.“ 

Godspeed!
Teil dieser sind auch Efrim Menuck und Mauro Pezzente (beide GY!BE), die beginnen erste Auftrittsmöglichkeiten zu schaffen: Menuck betreibt das Hotel2Tango – das mittlerweile zu einem vollanalogen Tonstudio umgebaut wurde und auf vielen Aufnahmen des Labels für einen unverwechselbar klaren aber gleichzeitig warm knisternden Sound sorgt – und Mauro Pezzente gründet Sala Rossa und Casa del Popolo. Dieses entstehende Angebot war wohl einer der Gründe, warum Ian Ilavsky und Don Wilkie ihre ursprüngliche Idee eine Location zu betreiben fallen lassen und sich stattdessen auf das Label konzentrieren. Die Labels, die in Montréal bereits bestanden, kamen für die meisten Bands nicht als Langzeitlösung in Frage. Sie fungierten eher als Sprungbrett und dienten letztlich dem Export von Talent, führt Wilkie aus.

„Unsere Herangehensweise an die Gründung von Constellation entsprach, neben einem Traum davon was passieren könnte, mehr einem Kunstprojekt. Wenn man die finanziellen Zwänge beiseite lässt, dann ist das die Art wie wir arbeiten wollen. Und so lange wir weiterhin unsere Miete durch andere dürftige Mittel finanzieren können, können wir wie ein Kunstprojekt agieren. Wir können all diese Entscheidungen, die nichts mit Kommerz zu tun haben, treffen und die sich nur darum drehen, Kunst auf eine höchst unkorrumpierte Art zu veröffentlichen. Wäre das nicht wunderschön?“, skizziert Wilkie den Constellations Masterplan. Dass es möglich war diese Utopie weitgehend umzusetzen, führen die beiden Labelmacher auf viele glückliche Umstände zurück. Einer davon ist wohl auch der Release von Album Nummer Drei, der auf die Veröffentlichung zweier Tonträger von Ilavskys eigener Band Sofa folgte: Godspeed You! Black Emperors „F♯ A♯ ∞“ (sharp f, sharp a, infintiy). GY!BE erspielen sich eine stetig wachsende Anhängerschaft in den Konzertsälen und Redaktionen der einschlägigen Magazine und Feuilletons der Qualitätspresse. 

Mit der Band rückt auch zunehmend das Label in den Mittelpunkt. Weitere Releases von GY!BE und verwandter Projekte, wie A Silver Mt. Zion, Fly Pan Am oder Hrsta, aber auch Do Make Say Think und Carla Bozulich aka Evangelista setzten Constellation als Postrockmetropole auf die Landkarte. Ein Ort, an dem man nie wirklich sein wollte, lag dieser doch auch noch im langen Schatten von GY!BE. Wilkie dazu: „Ein paar Jahre lang war es völlig egal, was wir veröffentlichten – Reviews begannen mit einem oder fünf sinnlosen Absätzen über Godspeed! und / oder „Post-Rock.“ Der Katalog des Labels ist tatsächlich nicht sehr groß, aber zu divers um in nur eine Schublade gesteckt zu werden. Was die Artists auf Constellation verbindet, ist in vielen Fällen ein Hang zum Experiment und der Versuch neue musikalische Ausdrucksweisen zu entwickeln und umzusetzen. Die Referenzen und musikalischen Verbeugungen sind so vielschichtig, wie umfangreich und erstrecken sich von Hardcore, über Punk, Electronica, Ambient, Folk bis hin zu Kammermusik. 

Anno 2004
Wie divers der Katalog des Labels tatsächlich ist, zeigte bereits ein erster Besuch im Mai 2004 im Wiener B72: Mit dabei die furiose Singer/Songwriterin Elizabeth Anka Vajagic, das experimentierfreudige Viola-Schlagzeug Duo Hanged Up und Sandro Perris Noise-Ambient-Folk Wunder Polmo Polpo – Hangedup und Sandro Perri sind auch Teil des Lineups der aktuellen Tour. Auch Jem Cohens Auftragswerk Empires of Tin, live dargeboten von Vic Chesnutt, Guy Piccotto und SMZ anläßlich der Viennale 2007, hinterließ bleibenden Eindruck. Viel der Artists verbindet tatsächlich ihre Beheimatung im Großraum Montréal. Das liegt nicht an einer etwaigen Québec-nationalistischen Signing-Policy des Labels, sondern verweist auf die Arbeitsweise, die sich an Indie-Labels der späten späten 70er und 80er orientiert. Deren „Ethos“ gilt als Vorbild für das eigene Label, wie Ian Ilavsky schildert: „Und mit ‚Ethos‘ meine ich nicht ‚hier ist der Katechismus‘, sondern, dass wir alle die Erschaffung neuer Werte leben und an dieser Anteil nehmen. Dieses Versprechen scheint mir in den letzten zehn Jahren bemerkenswert unerfüllt geblieben zu sein.“ Für Ilavsky ist es daher nicht die Größe, die Independent Labels von Majors unterscheidet, sondern ein politische Reflexion des eigenen Standpunkts, der einen „Idealismus bezüglich eines größeren kulturellen Diskurses“ einschließen müsse.

Als ganz konkrete Konsequenz des Bruch mit der Industrie und ihrem Funktionieren, arbeitet man ohne Verträge – gelebter Indieethos mit Handschlagqualität quasi: „Wir bescheißen dich nicht – wir bitten dich darum uns nicht zu bescheißen“, ist Wilkie folgend das ganz einfache Credo und fügt hinzu: „Darüber hinaus, wenn Artists, mit denen wir arbeiten, beschließen, dass sie nicht mehr mit uns arbeiten wollen, dann ist das Letzte, das wir uns wünschen, ein Blatt Papier hochzuhalten und zu sagen: mhm, du mußt aber.“ Damit das klappt, brauche es aber sehr viele persönliche Face-to-Face Gespräche, und die sind natürlich leichter zu bewerkstelligen, wenn man in der gleichen Stadt wohnt. Zugegeben ein paar recht prominente Ausnahmen gibt es: Carla Bozulich kommt eigentlich aus LA, The Dead Science aus Seattle, die Tindersticks aus Nottingham und Vic Chesnutt aus Athens, Georgia. 

Vertrauen und Freundschaft sind es, die letztlich über eine Zusammenarbeit entscheiden: „Independent bedeutet für uns die Bekräftigung echter Gemeinschaft, echter Gespräche und des echten Austauschs künstlerischer Arbeit. Die dringliche Aufgabe ist es, echte Beziehungen durch ein Netzwerk der Verbreitung und Betrachtung von Kultur, das sich darum bemüht den wahren Zustand unserer menschlichen Umstände anzusprechen, aufzubauen und zu fördern – eine Beziehung basierend auf Freiheit, Kritik und Dialog“, stand im Manifest des Labels zu lesen, bevor dieses mit dem Relaunch der Homepage den Weg alles Virtuellen ging (Google-Search). Das zentrale Element von Constellation Records ist wohl im Idealfall eine Dopplung des Widerständischen – das Widerständische im eigenen Agieren als Label und in den so veröffentlichten Werken. Beide Aspekte sind so als Kritik an den Verhältnisse zu verstehen – die Paarung Constellation und GY!BE oder SMZ kann dafür wohl als idealtypisch gelten. 

Bedeutungsvolle Kommunikation
Die Arbeitsweise des Labels versteht sich als Kritik am Funktionieren und den Auswirkungen kapitalistischer Produktion, vor allem im Kontext der Musikindustrie. Constellations Kritik verläuft dabei im Wesentlichen anhand folgender Leitlinien: Im Zentrum steht die Trennung und Hierarchisierung von Produzenten und Konsumenten, und die dadurch bedingte und ermöglichte Standardisierung von künstlerischen Werken. Die so entfesselte homogenisierende Kraft der standardisierten Musikproduktion würde andere künstlerische Ausdrucksweisen aber auch Arbeitsweisen marginalisieren. Da diese dominante Form der Produktion künstlerische Werke auch nur über ihre Quantifizierbarkeit verarbeiten könne, würde die Qualität des Werkes der Musikindustrie immer äußerlich bleiben. Über die eigene Wirksamkeit macht man sich derweil allerdings keine Illusionen: „Offensichtlich ist Rock-Musik zu veröffentlichen – wie experimentell und grenz-überschreitend auch immer – nur mittelbar eine politische und soziale Praxis. Nichtsdestotrotz hoffen wir ein klein bisschen zu einer bedeutungsvollen Form von Kommunikation, die von Kunst angeleitet wird, beizutragen.“ 

Constellation werden also weiter versuchen wie ein Kunstprojekt zu operieren – Wilkie fügt jedoch hinzu: „Aber wir lassen uns davon nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir selbst nichts mit kommerziellen Aspekten zu tun hätten, versuchen aber Entscheidungen zu treffen, die mehr mit Kunst als mit Profitmaximierung oder was immer es ist, dass Kommerz will, zu tun haben.“ Es mag zwar nicht möglich sein, sich kapitalistischen Mechanismen komplett zu entziehen, aber ist möglich sich den schlimmsten Auswirkungen zu wiedersetzen. Eine davon die Kommodifizierung von Kunst. So sind auch die aufwendigen Verpackungen der Platten nicht bloß ein hübsches Gimmick um den Verkauf anzukurbeln sondern Ausdruck dieser Haltung und dieses Anliegens: „Platten zu machen als Berufung und Handwerk, so weit von einer ‚Ware’ entfernt wie möglich.“ 

Auch die Tatsache, sich so viele Gedanken über die Marktförmigkeit der Musikproduktion zu machen, ist zentraler Bestandteil des Anliegens nicht marktförmig zu agieren. Wilkie erklärt warum: „Es ist sehr, sehr, sehr einfach und sehr billig sich hinzusetzen und sich romantische Vorstellungen davon zu machen, was man sein und werden wird, und wie man sich nicht verkaufen wird und so weiter. Wenn du nicht wirklich was zu verkaufen hast, dann will auch niemand kaufen.“ Aber wenn die Majors dann vor der Tür stehen und dir Geld anbieten würden, das du dringend brauchst, dann sei es um einiges schwieriger 'Nein' zu sagen. Aber Wilkie weiter: „Wenn du zumindest mit den Leuten mit denen du arbeitest, ein gemeinsames Verständnis davon teilst, was du wirklich machen willst, dann kannst du dich zumindest irgendwann daran erinnern, dass du völlig dazu in der Lage bist 'Nein' zu sagen, wenn der Teufel kommt, um an deine Tür zu klopfen.“

Das Bluebird Festival feiert ab 21. November 2012 einen Schwerpunkt zu Constellation mit u.a. Thee Silver Mount Zion Memorial Orchestra, Eric Chenaux, Sandro Perri, Do Make Say Thing und Hangedup (von oben nach unten). Zum vollständigen Programm geht es hier:

Erschienen auf TheGap.at.