Samstag, 26. November 2011

Wenn dich das Wissen schafft

von Katharina Fritsch / Werner Sturmberger

Die anstehenden Hochschulreformen in Österreich im Kontext der Wissensgesellschaft.

Universitäten müssten sich nach den “€žkontinuierlich steigenden Anforderungen in unserer Wissensgesellschaft”€œ orientieren, sagt Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle. Zugleich ist von Studiengebühren, Zugangsbeschränkungen, lebenslangem Lernen, Steigerung des Humankapitals und der Autonomie der Universitäten die Rede. Im Zentrum steht der Begriff der Wissensgesellschaft.

Wissen als die neue Produktivkraft
Laut dem deutschen Vordenker des Wissensgesellschaftsbegriffs Nico Stehr sind Wissensgesellschaften keine moderne Entwicklung. So fungierten schon “€ždas religiös-gesetzliche Thorawissen”€œ in der altisraelitischen Gesellschaft und “€ždas religiös-astronomische”€œ und agrarische Wissen in der altägyptischen Gesellschaft als Organisationsprinzipien.
Der entscheidende Unterschied unserer derzeitigen Wissensgesellschaft liege “€žam unbestreitbaren Vordringen der modernen Wissenschaft und Technik in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche und Institutionen”€œ. Dieses Vordringen ist eng mit einer zentralen Wende kapitalistischer Strukturen verbunden: mit der Verschiebung von materieller zu immaterieller Arbeit.
Seit den 1980ern seien nicht mehr Industrie-, sondern WissensarbeiterInnen die für den Markt relevanten Arbeitskräfte. Marketing und Werbung werden zu zentralen Wissensindustrien, Wissen zum zentralen Machtfaktor, indem für bestimmte Produkte “€žangebrachte”€œ Sehnsüchte, Gefühle und Wertvorstellungen produziert werden. Institutionen wie Staat, Kirche oder Militär verlören an Einfluss, meint Stehr. Wissensgesellschaften hätten handlungsermächtigende und demokratisierende Auswirkungen.
Anders der britische Sozialwissenschafter Bob Jessop: Es gehe um die Verankerung neoliberaler Normen und Prinzipien der Wettbewerbsfähigkeit in Regierung, Management, Massenmedien und akademischer Welt; der Fachbegriff dafür lautet Benchmarking, worunter der Vergleich verschiedener Institutionen an der jeweils besten verstanden wird.
Wissen wird, laut dem französischen Sozialphilosophen André Gorz, immer mehr mit Sach- und Fachkenntnis verwechselt, die Unternehmen produzieren und verkaufen. Aus dem natürlichen Gemeingut Wissen entsteht eine verwertbare Ware. Wissensgesellschaften bringen enorme Umstrukturierungen bestehender Verhältnisse mit sich. Teamarbeit, flache Hierarchien, flexible Arbeitszeiten und mehr Eigenverantwortung prägen diese Veränderungsprozesse. Man ist jemand, wenn man das “€žrichtige”€œ Wissen hat und dieses “€žrichtig”€œ einsetzen kann. Die Frage, was dieses “€žrichtige, verwertbare”€œ Wissen ist, spiegelt sich in den derzeitigen Diskussionen um anstehende Hochschulreformen wider.
Hochschulen sind als Orte der Produktion von Wissen Fokalpunkt dieser Debatte. In einem Bericht des BMWF finden sich viele Versatzstücke der Wissensgesellschaft wieder; er lässt auch ahnen, in welche Richtung die Hochschulreform zielt.

Die Universität als Unternehmen
Zentral ist die Neudefinierung der Autonomie der Unis: “€žAutonomie und Wettbewerb sind (…) dann am gröߟten, wenn die Hochschulen ihre Studierenden aussuchen, ihre Mitarbeitenden frei wählen, ihre Studienangebote selbst bestimmen können und ein Wettbewerb um Finanzierungsquellen herrscht.”€œ Zugleich wird darauf hingewiesen, dass “€žwissenschaftliche Redundanzen”€œ von einer zentralen Planungsstelle vermieden werden sollen. Als oberstes Gremium dient ein aus Mitgliedern der Bundes- und Länderregierungen zusammengesetztes Gremium. Vertreter-Innen der Hochschulen sind in einem untergeordneten Gremium nur mehr mit einer koordinierenden Funktion betraut.
Die von Karlheinz Töchterle progagierte Autonomie der Unis stellt demnach nicht mehr als eine Scheinautonomie dar. Sie umfasst Studiengebühren, Studieneingangsphasen bzw. Zugangsbeschränkungen und Drittmittel. Autonom impliziert die Möglichkeit, marktorientiert im Wettbewerb mitspielen zu können, nicht aber ökonomisch, inhaltlich oder organsiatorisch unabhängig zu sein.
Die von Finanzministerin Maria Fekter angekündigte Hochschulmilliarde weist in dieselbe Richtung: Sie ist an die unternehmerische Umstrukturierung der Unis, sprich an die oben genannten Maߟnahmen, gekoppelt. So heiߟt es auf der Homepage BMWF: “€žDiese Hochschulmilliarde wird ganz klar leistungsorientiert und nach den Kriterien von Effizienz und Wirkung vergeben werden.”€?
Das betrifft auch die angedachte Studienplatzfinanzierung: Für die Ausbildungskosten von Studierenden wird ein Durchschnittswert berechnet, der abhängig von der Studienrichtung verschieden multipliziert wird. Der Fokus liegt dabei auf den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Die Sozial- und Geisteswissenschaften bleiben unterfinanziert. In der Logik des Modells würde ihnen aufgrund der schlechten Betreuungslage mehr Finanzierung zustehen. Es ist jedoch absehbar, dass den Mängeln wohl mit Zugangsbeschränkungen begegnet werden wird.
Im Bericht des BMWF wird empfohlen, den Zugang zur Universität “€ždifferenziert”€œ zu gestalten, und zwar bevor Studierende die Studieneingangsphase absolvieren, denn: “€žInsbesondere in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Massenfächern erweist sich das Fehlen von Zulassungsregeln als ein schlechtes Geschäft für das Individuum und die Gesellschaft.”€œ Zulassungsregeln würden zu kürzeren Studienzeiten führen, die Studierenden könnten so früher “€žordentlichen Erwerbarbeitsverhältnissen”€œ nachgehen. Die Empfehlungen des Berichts gehen dabei an der Lebensrealität der AbsolventInnen und Studierenden vorbei. Sie konterkarieren die Forderungen der uni.brennt-Bewegung nach freier, emanzipatorischer Bildung und demokratischer Mitbestimmung.

Ein Blick in den Uni-Alltag
Die Bachelor-Master-Umstellung brachte eine erhebliche Verschulung des Studienalltags mit sich. Studierende sind einem verstärktem Leistungs- und Zeitdruck unterworfen. Die Studierenden-Sozialerhebung 2009 im Auftrag des BMWF ergab, dass 61 Prozent der Studierenden nebenerwerbstätig sind. Hinzu kommen oft weitere Tätigkeiten wie un- oder unterbezahlte Praktika. Die Uni wird immer mehr zur Schule fürs Erwerbsarbeitsleben: für zeitlich befristete, projektbezogene Arbeitsverhältnisse.
Vor allem unter Sozial- und GeisteswissenschafterInnen sind prekäre Arbeitsverhältnisse verbreitet. Am Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien bestreiten externe Lehrende 70 Prozent der Lehre. Sie werden dafür knapp über der Geringfügigkeitsgrenze entlohnt und erhalten meistens keine fixen Arbeitsverträge.
“€žTatsächlich ist das Unterrichten an der Uni ein Hobby, das es zu finanzieren gilt”€œ, sagt Mario Becksteiner, Vorstandsmitglied der IG-Lehrenden. “€žMan muss anderweitig Geld verdienen, um sich das Lehren leisten zu können. Viele talentierte Lehrende scheiden daher aus dem Unibetrieb aus.”€œ Becksteiner selbst unterrichtet aus diesen Gründen dieses Semester nicht an der Uni.
Diese Verhältnisse wurden bereits während der Uni-Proteste 1996 thematisiert. Damals formierte sich die nunmehrige IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen. Sie vertritt die Interessen wissenschaftlich Tätiger, deren Arbeitsverhältnisse als prekarisiert zu bezeichnen sind.
In der zum 15-jährigen Bestehen veröffentlichten Broschüre “€žWissensarbeit: Prekär: Organisiert”€œ wird nun der Begriff Wissensarbeit im Spannungsfeld zwischen dem Idealbild von Wissenschaft und der Selbstausbeutung in realen, prekären Arbeitsverhältnissen diskutiert.
Offen bleibt, auf welche Widerstände die angestrebte Hochschulreform treffen wird. Weltweit gibt es Protestbewegungen gegen die ß–konomisierung der Bildung. Im Zentrum der Proteste steht die Frage, was Wissen beinhaltet, wem es zugute kommen und inwiefern es verwertbar sein soll.


Erschienen in Falter Heureka - Ausgabe: Wir sind Klimawandel! (4/11)

Mittwoch, 23. November 2011

Wie steht es mit der Arbeit?

von Katharina Fritsch / Werner Sturmberger

Die Arbeit hat sich verändert, verschwunden ist sie auf keinen Fall. Trotz verstärkten technologischen Fortschritts arbeiten wir mehr denn je.

"Mit 65 wieder arbeiten und das bei McDonald's? Aber es macht mir so viel Spaߟ!” Die derzeitige McDonald's-Werbung verspricht Karriere-, Ausbildungs- und Weiterbildungschancen für alle, egal ob Lehrling, Studentin oder Pensionistin. Arbeit soll Spaߟ machen, Frau und Mann sollen sich mit ihr identifizieren. Anders als bei den Flieߟbandarbeiterinnen der Sechzigerjahre wird Arbeit heute immer mehr mit Selbstverwirklichung gleichgesetzt.

Arbeit aus gesellschaftlicher und persönlicher Perspektive
Arbeit ist ein ambivalenter Begriff. Als solcher deckt er viele Bereiche ab, reicht von Erwerbs- bis hin zu Beziehungs-, Bildungs- oder Trauerarbeit, hat ethische, philosophische, wirtschaftliche und soziologische Dimensionen und ist gespalten zwischen körperlichem ßœberleben und Sinnstiftung.
Generell bezeichnet Arbeit eine körperliche, geistige und nicht zuletzt soziale Tätigkeit. Der Arbeitspsychologe Theo Wehner von der ETH Zürich sagt: “€žDas Tätigsein, das Tun ist das Entscheidende in der Arbeit, und das verlieren so viele, da sie immer mehr zum Interaktionspartner zwischen Mensch und Computer werden und immer reduzierter in der Aktion zwischen Menschen.”€œ Arbeit bildet das funktionale Gerüst der Gesellschaft und zunehmend auch die alleinige Grundlage des Selbstwertgefühls. Sie bedeutet in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive nichts anderes als die Reproduktion von Gesellschaft. Aus individueller Sicht betrachtet, ist sie die Veränderung von Lebenschancen durch deren beständige Realisierung.

Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit
Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit sind dabei die beiden zentralen Instanzen, die das gesellschaftliche ßœberleben sichern. Während letztgenannte Variante noch immer vor allem von Frauen und weitgehend unbezahlt geleistet wird, ist Erwerbsarbeit jene Form, die unseren Alltag strukturiert. Sie tut dies unabhängig davon, ob wir selbst Erwerbsarbeit verrichten oder nicht: Denn sie definiert Arbeits- und Erholungsphasen, nach denen es alle anderen Lebensbereiche auszurichten gilt. Nicht bloߟ Tagesabläufe, auch die einzelnen Lebensabschnitte sind an ihr orientiert “€“ beginnend mit der schulischen Primärbildung bis zum Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit mit der Pensionierung.
“€žSie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daߟ wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen”€œ, schrieb Friedrich Engels.
Mit der bürgerlichen Gesellschaft wurde die individuelle Leistung immer mehr zur tragenden Säule des Sozialstatus und minderte die Bedeutung von Familie und Herkunft. Auch auf persönlicher Ebene entscheidet Erwerbsarbeit über Chancen der sozialen Teilhabe und Selbstwertgefühl. Dies umso umfassender, je mehr vor allem Erwerbsarbeit mit Selbstverwirklichung in Verbindung gebracht und damit positiv bewertet wird.
Dies war sie jedoch lange Zeit nicht, sondern das, was den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies erwartete: “€žIm Schweiߟe deines Angesichts sollst du dein Brot essen.”€œ (Moses, 3.19) “€“ Arbeit als ein beständiger Kampf ums ßœberleben, als Mühsal und Qual. Diese Bedeutung haftete ihr über die Antike bis hin zum Mittelalter an.
Im Zeitalter der Reformation erfuhr sie in der protestantischen Ethik eine positive Umdeutung als allgemein verbindliches Arbeitsethos. Dies ging so weit, dass Hegel und Marx zur Zeit der aufkeimenden Industrialisierung in diesem bereits die Bestimmung des Menschen zu erkennen meinten. Während Arbeit für Hegel der Weg zur Freiheit des Menschen war, schrieb Marx, dass die Arbeit immer gesellschaftlichen Zwängen unterworfen bleibt. Sie führe eben nicht notwendigerweise zu Freiheit, sondern zur Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit. Das Produkt der Arbeit gehöre nicht den Arbeitenden und die Beziehungen der Menschen würden kommerzialisiert. Die Arbeitsteilung würde die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Arbeit verdecken und führe vor allem in der Hochphase der Industrialisierung zu einer enormen Effizienzsteigerung, aber eben auch zu atomisierten Einzeltätigkeiten, die eine ganzheitliche Sinnerfahrung völlig konterkarieren. Gerade dieser Aspekt der Entfremdung wurde im Fordismus stark kritisiert.

Der Weg durch die Arbeit zum modernen Wohlfahrtsstaat
“€žPostfordimus”€œ, “€žnew economy”€œ, “€žwissensbasierte Gesellschaft”€œ “€“ alles Begriffe, die die Veränderungen des Wirtschaftssystems seit den Siebzigerjahren im Westen zu erfassen versuchen. Die Referenz dazu stellt das fordistische System dar, welches sich mit den USA als Ausgangsort seit den Zwanzigerjahren und insbesondere nach dem New Deal herausbildete.
Alain Liepitz, französischer ß–konom, führt drei zentrale Merkmale des fordistischen Systems an: Tayloristische Arbeitsorganisation “€“ auf der Basis wissenschaftlicher Studien sollten Arbeitsprozesse durch klare Arbeitsteilung und strikte Organisierung optimiert werden; institutionelle Kompromisse zur Aufteilung von Produktivitätszuwächsen zwischen Arbeit und Kapital “€“ in ß–sterreich als Sozialpartnerschaft bekannt “€“, und wohlfahrtsstaatliche Absicherung, die die Teilnahme aller am Markt ermöglicht.
“€žGute Arbeit, soziale Absicherung und Teilhabe an der Konsumgesellschaft “€“ für die meisten Menschen in Westeuropa war dies die Errungenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts”€?, beschreibt Andreas Novy, Wirtschafts- und Sozialwissenschafter an der WU Wien, diese wirtschaftliche und politische Epoche.
Massenkonsum und Massenproduktion wurden aneinander gekoppelt, das wirtschaftliche Wohl einer Gesellschaft war vom produktiven Wachstum und der Beschäftigung abhängig. So entstand der keynesianische, westlich geprägte Wohlfahrtsstaat.

Von der Krise zur Hoffnung auf Selbstverwirklichung und ins Casino
Doch in den Siebzigerjahren geriet das fordistische System in eine Krise. Ein Grund dafür war die verschärfte Konkurrenz der USA mit Westeuropa, das in den Sechzigerjahren die fordistische Umstrukturierung des Arbeitsprozesses und der Konsumformen inkorporierte.
Dies veranlasste die USA zu einer erneuten Umstrukturierung ihrer Industrie, die Bob Jessop, britischer ß–konom, Soziologe und Politologe als “€žwissenbasierte ß–konomie”€œ beschreibt. Informationstechnologien wurden zum zentralen wirtschaftlichen Motor, Wissen zum primären Produktionsfaktor.
Manuel Castells, spanischer Soziologie, hält für diesen Prozess Folgendes fest: “€žIn einem circulus virtuosus interagieren die Wissensgrundlagen der Technologie und die Anwendung der Technologie miteinander zur Verbesserung der Wissensproduktion und Informationsverarbeitung.”€œ
Diese ist auch als Reaktion auf fehlende technische Abstimmung der Produktionsprozesse, die zu sinkenden Produktivitätsgewinnen und starker Verschuldung der Unternehmen führte, zu betrachten. Das Schichtarbeitsmodell war an seine Grenzen gestoߟen, und tayloristische Prinzipien wie die Flieߟbandarbeit führten zu Widerständen innerhalb der Belegschaften. Arbeit sollte mehr mit Selbstverwirklichung verbunden werden, war eine wichtige Forderung der 68er-Bewegung, welche im postfordistischen System jedoch zugunsten des Kapitals aufgenommen wurde.
Elektronisierung und Automatisierung industrieller Produktionsprozesse schufen die Möglichkeit einer flexibilisierten Produktion, die eine Entkoppelung der Produktion vom Massenkonsum mit sich brachte. Dies führte zu gewaltigen ökonomischen Umwälzungen. Vor allem die USA verzeichneten eine Phase starker ßœberakkumulation, die Kapazitäten der Produktion überstiegen jene der Nachfrage. Dies resultierte in den USA und in Groߟbritannien in einer deutlichen De-Industrialisierung und einer Stärkung der Finanzmärkte. ßœberschüssiges Kapital wurde auf die Weltfinanzmärkte verlagert, das Weltwährungssystem liberalisiert. Der “€žCasino-Kapitalismus”€? war geboren.

De-Industialisierung? Nicht in Deutschland und Ö–sterreich
Die De-Industrialisierung nahm in Japan, Deutschland und ß–sterreich dagegen den Charakter einer Umstrukturierung an. Alle drei Länder verfügen nach wie vor über starke exportorientierte Industrien.
Ein Viertel der österreichischen Erwerbstätigen arbeitet weiterhin in diesem Sektor. Seit dem EU-Beitritt ist lediglich der Anteil der Erwerbstätigen im primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft, Bergbau) zugunsten von Industrie und Dienstleistungen leicht gesunken. Die Anteile der drei Sektoren am BIP sind dagegen weitgehend stabil geblieben.
Was sich jedoch verändert hat, ist die Anzahl der Erwerbstätigen: Waren 1985 in ß–sterreich knapp 3,2 Millionen Menschen erwerbstätig, sind dies nunmehr etwa mehr als 4,1 Millionen.
Industrielle Arbeit sei nicht einfach verschwunden, sondern verlagert worden, erklärt Karin Steiner, Geschäftsführerin des Vereins abif (analyse beratung und interdisziplinäre forschung). Irgendwo müsste ja unsere Zahnbürste produziert werden.
Laut Goldman Sachs tragen die BRICS-Länder, Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, mit steigender Tendenz mittlerweile zu einem Viertel des weltweiten BIP bei. Die Auslagerung bringe eine Veränderung des klassischen Zentrum-Peripherie-Modells mit sich, meint Novy. Vormals charakteristische Merkmale der Peripherie wie flexibilisierte, informalisierte Arbeit hätten Einzug in die Metropolen gehalten.

Arbeit heute: zwischen Burn-Out und Bore-Out
Durch den Einsatz von Technologie bei der Gewinnung von Rohstoffen und in der Verarbeitung konnte eine deutliche Effizienzsteigerung erzielt werden. Dadurch ist der menschliche Arbeitsaufwand, der notwendig ist, um unser materielles ßœberleben zu sichern, deutlich gesunken. Doch entgegen diesen Tendenzen ist unsere Arbeitsbelastung gestiegen.
“€žEs gab kein Jahrzehnt, das so viel Stress am Arbeitsplatz kennt wie das letzte Jahrzehnt. Wir haben viel Technologie in der Arbeitswelt integriert, aber es ist nicht belastungsärmer geworden”€œ, erklärt Arbeitspsychologe Theo Wehner dazu. Er meint, unsere Arbeitsverhältnisse würden sich vermehrt zwischen den beiden Polen Burn-Out und Bore-Out aufgrund stupider Tätigkeiten bewegen. Jede zehnte Krankschreibung am Arbeitsplatz weise das Merkmal der Depression auf.
Dies stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen. “€žDie Bereitschaft zur Flexibilität und das Gespür für zukünftige Veränderungen müssen sich zwangsläufig auch in den Arbeitsbedingungen widerspiegeln”€œ, erklärt Helwig Aubauer, Leiter der Abteilung Arbeit und Soziales der Industriellenvereinigung.
Entwicklungen wie Corporate Social Responsability (CSR) stellen einen Ausdruck solcher Optimierungstrends des Arbeitsumfeldes zum Zwecke der Produktivitätssteigerung dar. “€žJe mehr CSR als integrierte Managementstrategie im Unternehmen verfolgt wird, desto besser erfolgt die Implementierung neuer Arbeitszeitmodelle, wird mehr auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Rücksicht genommen, werden Programme für ältere Arbeitnehmer entwickelt und Gesundheitsprogramme für Mitarbeiter angeboten”€œ, sagt Aubauer. Hingegen warnt Peter Kampits, Alt-Dekan der Fakultät für Philosophie der Universität Wien, davor, dass gerade CSR zu einem bloߟen Etikett verkommen könne.
Das Repertoire der Maߟnahmen folgt schlussendlich auch dem Diktat der Effizienzsteigerung. Verstärkte Teamarbeit, flache und teils verschleierte Hierarchien, Netzwerkorganisationen sollen auch die Kreativität und Leistung der Mitarbeitenden steigern, meint der Soziologe Castells.

McMoments des Wissens und der Selbstverwirklichung
Im Postfordismus der Gegenwart entstehen neue Formen und Bereiche der Arbeit. Bildung und Wissen rücken vermehrt in den Mittelpunkt. Immaterielle Arbeit, Humankapital oder Wissensarbeiter sind die Stichworte dieser wissensbasierten Wirtschaft, lebenslanges Lernen und eine lernende Gesellschaft das Resultat einer sinkenden Halbwertszeit von Wissen.
Dieses verändere sich ständig, erklärt Karin Steiner: “€žWenn Sie ein Studium in vier Jahren abschlieߟen, ist das, was sie im ersten Semester gelernt haben, mitunter nicht mehr aktuell.”€œ Dies gelte nicht nur für hoch qualifizierte Bereiche wie jene der Computerbranche oder Medizin, sondern auch für sogenannte niedrigqualifizierte wie Handel, Tourismus und Gastgewerbe.
Wissen ist einer der zentralen Eckpfeiler postfordistischer Wirtschaft, Selbstverwirklichung ein anderer. Diese findet sich nun auch im Sortiment von McDonald”€™s. In der Werbung erleben die Mitarbeitenden Augenblicke bestätigender Selbstverwirklichung als “€žMcMoments”€œ: Ob zufriedene Kindergesichter oder Schichtleitung, Selbstverwirklichung scheint kein Privileg hochqualifizierter Arbeit mehr zu sein.
Das neoliberale Glücksversprechen ruht nun nicht nur auf der Säule scheinbar individualisierten Konsums, sondern baut auch auf Arbeit als Form der Selbstverwirklichung auf. Beispielsweise bieten McDonald”€™s und andere Unternehmen in Korporation mit einem zur Universität Wien gehörenden Karriereportal Studierenden die Chance, sich unentgeltlich an der Entwicklung einer Social-Media-Strategie zu beteiligen. Im Gegenzug erhalten Teilnehmende Management-Trainings und einen Eintrag mehr im Lebenslauf.

Arbeitslosigkeit, Prekarität und Sinnstiftung ohne Arbeit
So vermischen sich die vormals hervorstechenden Eigenschaften von niedrig- und hochqualifizierter Arbeit immer mehr. Während sich Menschen in niedrigqualifizierten Tätigkeiten nun auch dazu gedrängt sehen, sich in ihrem Beruf verwirklichen zu müssen, ist eine steigende Zahl von Hochqualifizierten mit prekären Arbeitsverhältnissen konfrontiert. Diese drückt sich vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie in der Kunst- und Kulturindustrie in Form unbezahlter Praktika, Projektarbeiten, Werksverträgen und befristeten Dienstverhältnissen aus.
Hochqualifizierte Arbeit in diesen Bereichen hat oftmals ihren Preis: schlecht oder unbezahlt. Vormals “€žLebensphasen abhängige Prekarität”€œ, d. h. in ßœbergangsphasen zwischen Ausbildung und Beruf, würde in manchen Bereichen zur Normalität, meint Steiner. Während prekäre Arbeitsverhältnisse im akademischen Milieu steigen, haben Akademiker dennoch immer noch mehr Chancen am Arbeitsmarkt. So liegt die Arbeitslosenrate für Pflichtschulabsolventen laut Statistik Austria im zweiten Quartal 2011 bei 8,9 Prozent, bei Akademikern nur bei 2,2 Prozent.
“€žErwerbskarrieren werden so sein, dass man immer wieder Phasen der Arbeitslosigkeit hat, die man mit Weiterbildung füllt. Wir werden länger arbeiten und möglicherweise auch neben der eigenen Pension geringfügig erwerbstätig sein müssen”€?, wirft Karin Steiner einen Blick in die nahe Zukunft.
“€žIch glaube, es ist ein ethisches Problem, hier eine Grenze zu finden, die den Antrieb, den man zur Selbstverwirklichung hat, unterscheidet von dem, wo man sich wirklich selbst ausbeutet”€œ, sagt der Philosoph Kampits. Daher sei es eine ethische Verpflichtung, Prinzipien einzuführen, die ein bestimmtes Maߟ wiederherstellen würden. Eine Reflexion des Stellenwerts der Arbeit sei notwendig.

Andreas Novy,WU Wien: “€žGute Arbeit, soziale Absicherung und Teilhabe an der Konsumgesellschaft “€“ für die meisten Menschen in Westeuropa waren dies die Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts “€œ
Karin Steiner, abif Wien: “€žErwerbskarrieren werden so sein, dass man immer wieder Phasen der Arbeitslosigkeit hat, die man mit Weiterbildung füllt.”€œ
Helwig Aubauer, Industriellenvereinigung: Die Bereitschaft zur Flexibilität und das Gespür für zukünftige Veränderungen müssen sich zwangsläufig auch in den Arbeitsbedingungen widerspiegeln.”


Erschienen in Falter Heureka - Ausgabe: Wie steht es mit der Arbeit? (5/11)

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Grundeinkommen - ist es möglich?

Was würden wir mit unserem Leben machen wollen, wenn für unsere grundlegenden Bedürfnisse gesorgt wäre? Wenn wir nicht mehr vorrangig für die Reproduktion unserer Arbeitskraft arbeiten würden?

Die Antwort ist nur scheinbar einfach – wir hätten andere Sorgen und die wären dann wirklich herausfordernd. Wir müssten darüber nachdenken, was wir aus unserem Leben machen wollen.
Das Grundeinkommen könnte diese Situation schaffen. Gemeint ist damit ein rechtlich verbrieftes, bedingungsloses Einkommen, das jeder und jedem eine volle soziale Teilhabe ermöglicht.
In welcher Höhe oder in welcher Form es ausbezahlt werden könnte, hängt dabei von vielen Faktoren ab, etwa von inkludierten Sozialleistungen (Krankenversicherung, Bildung) und vor allem vom Willen, uns gegenseitig so viel Freiheit zuzumuten. Die im Jahr 2010 eingeführte bedarfsorientierte Mindestsicherung hat damit also rein gar nichts zu tun.

Die Konsequenzen, die sich aus der Einführung des Grundeinkommens ergeben, sind dabei nicht im Detail vorhersehbar. Reproduktionsarbeit wäre aber plötzlich auch bezahlte Arbeit.
Erwerbsarbeit würde ihre Funktion als Schibboleth der sozialen Teilhabe verlieren und somit auch als Werkzeug der Disziplinierung unnütz werden. Für jene 220.000 Menschen in Österreich, die im Moment von ihr ausgeschlossen sind, würde sie ihren Stachel verlieren. Armut wäre schlagartig ein historisches Phänomen: rund eine Million Menschen sind armutsgefährdet, knapp die Hälfte davon manifest arm.
Bereits jetzt stammen mehr als ein Drittel des Einkommens der privaten Haushalte aus der öffentlichen Hand; die Finanzierung eines Grundeinkommens ist daher kein Ding der Unmöglichkeit, sondern eine Frage des Willens.

Aber gerade der hat unter der neoliberalen Propaganda massiv gelitten – auf der kulturellen Ebene hat man uns erklärt, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können, auf der politischen gleich den Beweis dazu geliefert. Der Preis dieser Entsolidarisierung ist nicht absehbar, die Folgen aber spürbar.
Daniel Häni, Schweizer Vorkämpfer für das Grundeinkommen, hat gefragt, ob Menschen nach dessen Einführung weiterarbeiten würden, was neun von zehn Befragten bejahten. Acht von zehn Befragten derselben Gruppe glauben aber auch, dass die anderen Menschen dann aufhören würden zu arbeiten. Vielleicht ist das auch gut so, denn, wie Daniel Häni augenzwinkernd meint: „Mit bedingungslosem Grundeinkommen wird das Leben sowieso viel schwieriger.“


Erschienen in Falter/Heureka - Ausgabe: Wie steht es mit der Arbeit? (5/11)